Podiumsdiskussion

Podiumsdiskussion

Podiumsdiskussion

Podiumsdiskussion anlässlich der Verleihung des Otto Kirchheimer-Preises 2019 am 27. November 2019 an Professor Dr. Dres. h.c. Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts zum Thema „Was hält unsere Demokratie noch zusammen?“ im Großer Ratssaal der Stadt Heilbronn. 

Prof. Dr. Dres. h.c. Andreas Voßkuhle
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Angelika Nußberger M.A.
Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte
Prof. Dr. Ulrich von Alemann (Moderation)

27. November 2019, Heilbronn

Förderverein Otto Kirchheimer-Preis e.V. - Prof. Dr. Dres. h.c. Andreas Voßkuhle

Prof. Dr. Dres. h.c. Andreas Voßkuhle

Förderverein Otto Kirchheimer-Preis e.V. - Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Angelika Nußberger M.A.

Professor Dr. Dr. h.c. mult. Angelika Nußberger M.A.

Förderverein Otto Kirchheimer-Preis e.V. - Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte

Förderverein Otto Kirchheimer-Preis e.V. - Professor Dr. Ulrich von Alemann

Professor Dr. Ulrich von Alemann

von Alemann:
Mir ist zu Ohren gekommen, dass es ein kleines Zeitproblem gibt, weil wir für das abschließende Podium eine Stunde vorgesehen haben, also bis 19.30 Uhr, aber einige hier im Großen Ratssaal um 19.30 Uhr einen Konzerttermin haben. Mein Vorschlag ist, wenn der Oberbürgermeister zustimmt, der ja hier Hausherr ist, dass wir wie geplant eine Stunde diskutieren, wenn wir schon hier alle zusammen sind. Alle, die zum Konzert in die Harmonie gehen wollen, können dann um 19.05 Uhr still und heimlich den Saal verlassen. Sind Sie damit einverstanden? (Beifall)

Ich muss das Podium nicht mehr extra vorstellen, außer meinen lieben Kollegen Karl-Rudolf Korte, der Professor an der Uni Duisburg-Essen, aber eigentlich in Speyer zu Hause ist. In Duisburg hat er eine ganz bemerkenswerte Institution gegründet: die NRW School of Governance. Mit seinen scharfsinnigen Analysen im ZDF nach Wahlen hat er sich in der Öffentlichkeit profiliert und bekannt gemacht. Schön, dass Du auch hier bist, lieber Karl-Rudolf.

Was hält unsere Demokratie noch zusammen? Darüber wollen wir in der nächsten Stunde diskutieren, obwohl schon Vieles in den Vorträgen gesagt wurde. Über die Demokratie in Deutschland von Ihnen, Herr Voßkuhle, über Herrn Voßkuhle und die Demokratie von Ihnen, Frau Nußberger, und über unseren Otto Kirchheimer wieder von Ihnen, Herr Voßkuhle, aber auch von unserem Preisstifter, Herrn Friese und schließlich auch von unserem Oberbürgermeister hier in Heilbronn, Herrn Mergel. Aber ich bin sicher, über alle Beiträge kann noch intensiv weiter diskutiert werden. Allein mit meinen Notizen könnte man einen ganzen Abend bestreiten.

Ich möchte mit Ihnen anfangen, Herr Voßkuhle, was Sie über Rechtsstaat und Demokratie gesagt haben.

Ich habe wie Harald Friese in den 60er- und 70er Jahren in Bonn studiert. Damals wurde in der Politikwissenschaft ganz mutig unterschieden zwischen der formalen Demokratie des Grundgesetzes und seiner Institutionen und der inhaltlichen Demokratie mit Partizipation, Beteiligung und Mitwirkung. Diese inhaltliche Demokratie sei durch das rechtsstaatliche Formale noch lange nicht verwirklicht. Dies sei ein Widerspruch.

Herr Voßkuhle, Sie haben diesem Widerspruch widersprochen. Ich bitte Sie, das noch einmal genauer auszuführen vor dem Hintergrund der damaligen Debatte. Formale Demokratie einerseits und inhaltliche Demokratie andererseits. Was heißt das?

Und davon abgesetzt, was immer schon in Deutschland herumwaberte: die inhaltliche Demokratie ist eigentlich die wahre, die eigentliche Demokratie des Volkes.

Voßkuhle:
Mir ist es wichtig festzustellen, dass es keine gute Form der Demokratie und keine schlechte Form der Demokratie gibt. Wenn wir das Volk befragen, so eine landläufige Vorstellung, sei dies demokratischer als die Entscheidung eines Parlamentes. Der Brexit ist ein Beispiel dafür, dass es mit einer Bürgerbefragung nicht immer so einfach ist. Die Direkte Demokratie ist nicht besser oder schlechter. Sie ist anders.

Auch die repräsentative Demokratie braucht Partizipation. Demokratie muss erlebbar sein, die Bürger und Bürgerinnen sollen sich engagieren und mitmachen können. Demokratie braucht eine Zivilgesellschaft, braucht die Bereitschaft, sich zu engagieren, braucht Foren zur Diskussion. Das muss von der Politik gehört werden.

Gerade die Kommunalpolitik kennt viele Verfahren, wie die Bürger beteiligt werden, um mit ihnen gemeinsame Entscheidungen zu treffen Dieser Umstand sollte aber nicht gegen die repräsentative Demokratie gewendet werden.

Das scheint mir ein Problem einer alten und wieder aktuellen Diskussion zu sein, die ideologisch bestimmte Formen der Demokratie als gute Demokratie veredelt und die repräsentative Demokratie, die auch noch auf Parteien und Berufspolitiker angewiesen ist, als eine schlechte Demokratie betrachtet.

Heute sind unsere Bundestagsabgeordneten Schwerstarbeiter, wenn sie ihre Arbeit ordentlich machen, vor Ort im Wahlkreis bei ihren Wählerinnen und Wähler sind und politisch etwas bewegen wollen. Gleichzeitig werden sie permanent von der Öffentlichkeit kontrolliert, über jede kleine Unachtsamkeit wird im Internet sofort berichtet: Das ist ein harter Job und ich finde, dass wir diese Erkenntnis an den Anfang unserer Diskussion stellen können, um denjenigen, die dieses Geschäft tagtäglich für uns machen, ein wenig Respekt zu zollen. (Beifall)

von Alemann:
Sie sprachen vom Vertrauen, wie wichtig das gerade im Rückblick auf Weimar ist, wo dieses Vertrauen fehlte. Das Vertrauen in die Verfassungsgerichte ist in Deutschland durchaus vorhanden. 80 % Vertrauen gilt dem Verfassungsgericht, und es steht damit an der Spitze der Institutionen, denen man in Deutschland Vertrauen zollt. Aber eine ganz aktuelle Umfrage von Allensbach vom 20.11.2019 hat gezeigt, dass das allgemeine Vertrauen in die politischen Institutionen von 80 % vor fünf Jahren auf 51 % gesunken ist.

Was hält die Demokratie dann noch zusammen? Ist das schon bedrohlich?

Voßkuhle:
Das ist ein negativer Trend. Den müssen wir ernst nehmen. Das zeugt von einer gewissen Politik- und Institutionenverdrossenheit. Das hat Gründe. Ein Grund ist, dass die Menschen unzufrieden sind mit dem System, in dem sie leben, obwohl – das ist neu in der Geschichte der Bundesrepublik – es ihnen wirtschaftlich so gut geht wie noch nie, auch denen, die schwer an ihrem Schicksal zu tragen haben.

Trotzdem ist die Kritik größer und hörbarer geworden. Das ist eine neue Situation. Das weiß die Politik und bei den vielen Gesprächen, die ich in Berlin führe, stelle ich fest, dass darüber sehr ernsthaft nachgedacht wird.

Als in diesem Jahr 70 Jahre Grundgesetz gefeiert wurde, hat der Bundespräsident 200 Bürgerinnen und Bürger ins Schloss Bellevue zu Kaffee und Kuchen und Gesprächen eingeladen. An jedem Tisch war zu erfahren: „Ach, die machen das teilweise gar nicht so schlecht, aber wir werden nicht gehört.“ Viele Bürgerinnen und Bürger hatten das Gefühl, sie kommen nicht vor.

Ich glaube, das ist der Kern. Vertrauen entsteht nur dann, wenn man sich zuhört und wo man sich erlebt. Deshalb gehe ich auch als Verfassungsgerichtspräsident vor Ort. Ich könnte ja auch sagen: Ich bin der Präsident des Gerichts, ich bleibe bei meinem Gericht und treffe die anfallenden Entscheidungen. Dagegen könnte niemand etwas einwenden. Aber das reicht heutzutage nicht mehr, weil die Bürgerinnen und Bürger nur dann Vertrauen fassen, wenn man Richterinnen und Richter erlebt , was sie tun und warum sie es tun.

Wir alle, die wir für Institutionen arbeiten, müssen versuchen, den Bürgerinnen und Bürgern den Eindruck zu vermitteln, dass ihre Anliegen gehört werden, dass der Staat nicht um seiner selbst Willen da ist, sondern für sie da ist. Dies ist eine der Ideen des Grundgesetzes.

von Alemann:
Frau Nußberger, Sie sind Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg. Ihr Gericht wird getragen von den 47 Mitgliedern des Europarates. Sie haben also eine größere Basis als die Europäische Union in Brüssel mit ihren 27 Mitgliedern. Viele ihrer Mitglieder würden den Satz von Steinmeier nicht unterschreiben: “Demokratie ist nur liberal denkbar, sonst ist sie nicht.“. Was machen Sie mit den Putins, den Orbans, den Kaczyńskis, die an dieser Wertebasis der Demokratie rütteln? Die pfeifen auf diese Wertebasis. Haben Sie manchmal ein Problem als deren Gericht?

Nußberger:
Wir sind ja kein Gericht der Orbans und der Putins, sondern ein Gericht der Menschen, die in Rußland und in Ungarn leben. Die kommen zu uns, weil sie uns vertrauen. Genau das ist wichtig, dass es eine Institution außerhalb des eigenen Staates gibt, ein Gericht, das Fälle staatlicher Übergriffe untersucht.

Das Besondere an unserem Gericht ist gerade, dass es nicht nur für Wohlfühl-Demokratien da ist, sondern auch für Länder wie Aserbeidschan, Armenien, Moldau, Türkei, Rußland, Ukraine usw..

von Alemann:
Wenn diese Werte aber dort nicht so gesehen und nicht anerkannt werden, auch wenn die Bürger dieser Staaten sich an Sie wenden, diese Werte einfordern und sie dann zwar recht bekommen, aber in ihren Heimatländern werden sie trotzdem unterdrückt: Kann das denn passieren?

Nussberger:
Ja, natürlich kann das passieren. Aber erstmal ist es für Jemanden, der sich ungerecht behandelt fühlt, ein extrem wichtiges Signal, wenn eine internationale Instanz das bestätigt und feststellt: „Ja, deine Rechte werden in der Tat verletzt“, und dies auch dann, wenn sonst gar nichts passiert.

Das Gericht ist aber nicht so zahnlos, wie ihm häufig unterstellt wird. Es kann seine Urteile auch umsetzen, wie das Beispiel eines Bloggers in Aserbeidschan zeigt, der aus Sicht des Gerichtshofs vollkommen willkürlich verhaftet und kurz vor der Präsidentschaftswahl in Untersuchungshaft genommen wurde, weil er als Kandidat antreten wollte. Trotz des Urteils des EGMR wurde er zu einer langen Haftstrafe verurteilt.

Danach hat aber das Ministerkomitee des Europarats den Fall an das Gericht zurückverwiesen mit der Begründung, dass hier der völkerrechtliche Vertrag nicht umgesetzt würde. Noch während dieses Verfahrens wurde der Blogger von Aserbeidschan freigelassen. Es wurde politischer Druck aufgebaut und der Gerichtshof war Nutznießer des „Blame and Shame-Effekts“. Ich will es ganz deutlich sagen, man würde das Gericht vermissen, wenn es es nicht gäbe.

von Alemann:
Karl-Rudolf, Herr Voßkuhle hat es vorhin erwähnt: Uns geht es in Deutschland wirtschaftlich so gut wie noch nie, niedrige Arbeitslosigkeit, die Zahl der Erwerbstätigen ist erfreulich hoch. Das Wirtschaftswachstum ist noch einigermaßen ordentlich, auch wenn es zur Zeit eine Delle gibt. Wir haben Wohlstand, obwohl es bei uns auch Armut gibt. Warum, um Gottes Willen, gilt da eine Große Koalition nicht als wahnsinnig erfolgreich?

Gilt dann dieser alte Satz von Clinton, den er angeblich an seiner Pinnwand in seinem ersten Wahlkampf hatte „It’s the economy, stupid“ nicht mehr? Generationen von Wahlkämpfern haben diesen Satz wiederholt. Im Augenblick geht’s uns gut und die AfD wächst in Ostdeutschland. Hast Du dafür eine Erklärung?

Korte:
Das ist eine typische Alemann-Frage. Scheinbar einfach, aber hoch komplex. Die Tage des Zorns werden nicht weniger, bestes Beispiel meine heutige Anreise in die Stadt der Bundesgartenschau. Heilbronn liegt geografisch nicht schlecht. Doch auch mit der besten Absicht, ein paar Stunden früher zu kommen, schafft man es nicht rechtzeitig anzureisen. Man sitzt verärgert im verspäteten Zug und möchte zumindest etwas Arbeiten, funktioniert nicht – kein Internet, und wenn man versucht, ein Taxi zu bekommen, bei dem man mit Karte zahlen kann – zu viel verlangt (Heiterkeit).

So häufen sich Kritik und Zorn an dem, was wir an Staatlichkeit erleben, soweit Staatlichkeit überhaupt noch erkennbar ist. In einigen Regionen gibt es keine Staatlichkeit mehr. Da fehlen Gerichte, Kliniken, der Bus fährt nicht. Der daraus resultierende Zorn drückt die Unzufriedenheit mit dem Leistungsversprechen der Demokratie im Hinblick auf die Daseinsvorsorge aus. Und wir wissen: Politische Einsamkeit führt zur Wahl von Extremen.

Wir haben eine Bonsai-GroKo, die praktisch nur noch situationsbezogen regiert und für uns alle Dinge routiniert abarbeitet. Es wird Tag für Tag weitergearbeitet und es werden Vorhaben erledigt, die alle nicht falsch sind, Reparaturarbeiten in verschiedenen Politikfeldern. Lindenstraße als Politik, die über die Beschreibung der Wirklichkeit nicht hinausgeht. Das ist für mich der „Merkelismus“.

Wo ist aber eine Idee, die über die Wirklichkeit hinausgeht? Wo gibt es eine mobilisierende Zukunftserzählung, deren Themen wie an einer Wäscheleine aufgereiht sind? Die Politik verweigert sich einer Diskussion darüber. Die Parlamente, die für eine solche Debatte zuständig sind, schließen mit Machtarroganz Themen aus oder überlassen Anderen die Debatte außerhalb der repräsentativen Verfasstheit. Dabei gibt es so viele Ideen, gerade auch in Heilbronn und Baden–Württemberg, Festspiele des Denkens. Da muss man nur zugreifen.

von Alemann:
Und warum passiert das nicht? Kannst Du uns das erklären? (Beifall)

Wir haben eine Große Koalition, die vor der Wahl nicht als Koalition angetreten ist. Bei den jetzigen Umfragedaten werden wir Dreierkoalitionen oder Viererkoalitionen haben, die vor den Wahlen auch nicht angekündigt sind. Wie die dann zustande kommen oder auch nicht, siehe Kenia, wird für den Bürger noch geheimnisvoller werden als bisher. Was wird dann aus der Demokratie, wenn die Politik unberechenbar wird?

Korte:
Mündige Wähler können damit umgehen. Wir sind es in einer Koalitionsdemokratie gewohnt, dass nie das, was wir erwarten, eins zu eins umgesetzt wird, sondern immer nur eine Koalitionsmischung. Bisher ahnten wir noch immer, welche Koalitionen sich herausbilden könnten, zukünftig wird das ein Lotteriespiel. Die letzte Bundestagswahl war die erste große Wahl ohne eine Koalitionsaussage. Die Verhandlungsphasen werden länger. Jetzt warten wir darauf, dass sich neue Staaten gründen, damit wir unter neuen Flaggenfarben zur Benennung einer Koalition wählen können. (Heiterkeit)

Der Prozess der Regierungsbildung verändert sich, wenn sich vor der Wahl nie-mand erklärt. Da die Regierungsbildung nicht mehr in der Hand der Wähler liegt, kommt im Bund dem Bundespräsidenten eine besondere Rolle zu. Wir haben ohnehin zwei Präsidenten. Eine Kanzlerpräsidentin, die präsidial regiert und einen Bundespräsidenten, der oft auch ins Tagesgeschehen eingreift und mit seiner Reservemacht erstmals als Kanzlermacher 2017 aktiv geworden ist.

Wenn es immer unklarer wird, wer Mehrheiten bildet, wird es 2021 in einem möglichen Vielparteienparlament nicht unwahrscheinlicher, dass diese Rolle des Bundespräsidenten bedeutsamer wird und er als ein Spielmacher der Demokratie aktiv werden muss, um damit die Demokratie zu stärken. Er verkörpert das Gemeinwohl und personifiziert die Einheit der Nation.

Voßkuhle:
Eine Frage an Herrn Korte, das ist ja sehr schlüssig, was sie sagen. Mich irritiert aber, dass wir die von ihnen beschriebene Entwicklung in anderen Ländern auch beobachten können. Das zeigt mir, dass es noch andere Gründe außer den von ihnen genannten geben muss, die auf einer allgemeineren Ebene zu finden sind. Ich denke z.B. an die Veränderung der politischen Kommunikation durch die Auswirkungen der Globalisierung, die den Einzelnen zutiefst verunsichern, weil auf einmal Heilbronn ganz nah bei Peking liegt und man nicht genau weiß, was das konkret für den Einzelnen für seine Arbeit bedeutet.

Wir müssen dorthin schauen, wo die Demokratien, die wir kennen, bisher ganz gut funktioniert haben, unter Druck stehen und wie sie damit umgehen.

Korte:
Diese radikale Globalisierung hat Entgrenzung und Entsicherung zur Folge, die uns alle umtreibt. Es stellen sich Informations-, Sicherheits- und Grenzfragen. Das sind Modernisierungserfahrungen, die es immer gibt und gegeben hat. Das ist die Trostformel der Historiker.

Entscheidend ist jedoch, wie man mit diesen Modernisierungserfahrungen umgeht. Deutsche Wähler und auch die deutsche Demokratie weichen von bekannten Mustern ab. 73 % der Deutschen haben bei der letzten Bundestagswahl mittig gewählt. Das ist in Europa und weltweit ein außergewöhnliches Ergebnis.

Die Mitte verteilt sich bei uns auf mehrere Parteien, und wir wählen in Serie immer das Gleiche, nämlich den Amtsadel, den wir lieben. Wir belohnen das Bekannte, nicht das Unbekannte. Das unterscheidet uns von vielen Ländern. Auch vom Typus lassen sich die gewählten Funktionsträger eher als „Extremisten des Normalen“ beschreiben, Büroleitercharme pur. Wir wählen nicht die Jungen, wie die Kennedys, die weltweit gewählt werden, und auch nicht die Populisten, die laut daherkommen.

Gleichwohl gibt es aber auch die Sehnsucht nach einem neuen Auftritt, es gibt den Hang nach charismatischem Überschwang, den „Lindnerismus“, wie er auch bei Habeck und Baerbock vorkommt. Aber die Mehrzahl tickt anders und ich glaube, dass die Wähler der Entfaltung des Populismus wie in anderen Ländern Grenzen setzen.

Nußberger:
Ich möchte noch gerne zwei Dinge sagen. Ich habe in gewisser Weise eine Außenperspektive, weil ich jeden Tag am EGMR beim Mittagessen mit meinen ausländischen Kolleginnen und Kollegen diese Fragen diskutiere und sehe, dass die deutsche Politik in aller Munde ist. Die europäischen Nachbarn schauen auf uns, sind gut informiert und wissen auch oft über Details Bescheid, worüber ich immer staune.

Ich habe meine ukrainische Kollegin vor einer ihrer vielen Wahlen gefragt, wen sie wählen wollte. Ihre Antwort war: „Ich wähle Frau Merkel.“ Was folgt daraus? Im Ausland wird die deutsche Demokratie viel positiver gesehen wie wir es tun. Wir jammern auf hohem Niveau. Ich glaube auch, dass die Herausforderung nicht nur die Unsicherheit ist, welche Koalition nach einer Wahl gebildet wird. Wir sind ganz grundlegend verunsichert, weil wir es gewohnt sind, in einem Erfolgsmodell zu leben.

Die westdeutsche Demokratie war nach dem Krieg erfolgreich. Es gab viele Kontroversen, aber es hat sich eine demokratische Öffentlichkeit herausgebildet. Es hat sich Wohlstand entwickelt. Im Ausland hat man sich von uns beraten lassen, wir waren verwöhnt in dem Sinne, dass alle unser Modell wollten. Ich glaube, wir sind deshalb im Augenblick verunsichert, weil wir nicht mehr so sicher sind, ob unser Modell so gut ist. Wir zweifeln dran, weil wir manche Dinge nicht hinbekommen

Der Bau des Berliner Flughafens dauert immer länger, das Internet funktioniert oftmals nicht, die Züge fahren nicht verlässlich. Unsere Alltagserfahrungen sind negativ. Der chinesische Staat gilt für uns nicht gerade als Vorbild. Und dennoch müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass dort innerhalb von wenigen Jahren Stadtteile aufgebaut werden, dass ganz China internetmäßig vernetzt ist. Wir sind plötzlich unsicher, ob unser Modell zukunftsfähig ist.

von Alemann:
Wir dürfen doch China nicht messen an dem schnellen Bau von Autobahnen, von Schienenstrecken oder dem Pekinger Flughafen. Wir müssen das gesamte Gesellschaftsmodell sehen. Wir wollen ja nicht irgendwelche Minderheiten wie die Uiguren, also Millionen Menschen, in KZs stecken. Wir wollen ja nicht die Menschen in den Städten überwachen mit Gesichtserkennung und dann Punkte verteilen, ob sie sich ordentlich verhalten haben oder nicht, was sie bei der nächsten Bewerbung negativ spüren können, wenn sie falsch geparkt haben. Wir wollen, ja wir müssen das Gesamtmodell sehen. Dass die Chinesen autoritär relativ schnell die E-Mobilität realisieren können, ganz anders als wir, das ist doch geschenkt.

Nußberger:
Die bisherige Erfahrung von autoritären Modellen war aber, dass sie hohl sind und letztlich scheitern. Mich erschreckt, dass Demokratien, die nach einem politischen Umbruch wie in Ungarn und Polen gut funktioniert haben und auch Erfolgsmodelle waren, sich dann an autoritären Strukturen anderer Modelle orientierten. China ist deshalb für uns eine Herausforderung, weil das System mit undemokratischen Strukturen gut funktioniert, auch wenn es nach unserer Auffassung als autoritäres System hohl ist und deshalb zusammenbrechen müsste.

von Alemann:
Die großen Ziele unseres Erfolgsmodells der 50er und 60er Jahre waren zwei schlichte Slogans von CDU und CSU, „Keine Experimente“ und „Wohlstand für alle“. Waren das große Ziele? (Heiterkeit)

Ich glaube, die Menschen wollen Persönlichkeiten, wie Sie, Herr Voßkuhle, auch gefordert haben. Wenn man die Reihe unserer 16 Ministerpräsidenten anschaut, welcher von denen ist der größte Charismatiker oder sind alle keine? Wäre nicht schon viel gewonnen, wenn es ein gutes politisches Handwerk als Landesregierung oder Bundesregierung gibt, wenn man zu seinem Wort steht, wenn man z.B. einen Klimapakt schmiedet und diesen auch durchsetzt. Wäre ein solches erfolgreiches Handwerksmodell des Politischen, das manche Ministerpräsidenten erfolgreich einlösen, wäre das nicht auch schon etwas?

Korte:
Führungs- und Kommunikationsstile wandeln sich natürlich. Diese von mir despektierlich beschriebene Form des Merkelismus war ja eine Erlösung für uns nach dem charismatischen Machogehabe des Männerkabinetts Schröder, wo Frauen nur für Gedöns zuständig waren. (Heiterkeit)

Merkel setzte mit ihrem geradezu dienenden Stil in einer protestantischen Armutsästhetik dem etwas entgegen. Diese Art zu arbeiten, zu kommunizieren, zu führen, ein Pragmatismus ohne eine Erzählung und ohne einzige Erklärung, ist nun jedoch an einen Endpunkt geraten. Nun suchen wir schon wieder nach einer Idee, die wir als Erklärung vermittelt bekommen. Nichts ist so stark wie die Kraft einer Idee. Sie sehen es an dem Erfolg der Grünen, 20 % bis 25 % der Bildungsbürger spricht das an, obwohl die Grünen keine Antworten geben, aber doch in einem durchaus charismatischen Überschwang versuchen, Antworten zu sammeln.

Voßkuhle:
Bald haben wir ja alle durch. Wen können wir dann noch wählen? (Heiterkeit)

Korte:
Im Moment ist unter den Rahmenbedingungen veränderter Kommunikation und Führung ein anderes Modell attraktiver. Das wird im Föderalsystem jedoch nicht gleichermaßen durchschlagend sein. Es gib viele sehr unterschiedliche und heterogene Akteure. In der Gesamtbetrachtung meine ich jedoch erkennen zu können, dass der Bedarf nach einem charismatisch-erzählenden Stil stärker und größer wird.

Die Form der Empörungsverweigerung, wie sie vorgelebt wird, passt nicht mehr in eine Zeit, in der agonale Kräfte wirken, und die Kraftzentren der Demokratie scheinbar enger werden. Vielleicht müsste man mit mehr Leidenschaft und mit missionarischem Eifer in der Mitte für Demokratie werben. Die systematische Empörungsverweigerung, wie sie manche in der Bundesregierung vorleben, ist ein sicherlich guter Stil, aber schon deshalb problematisch, da wir Gefühle nicht nur der extremen Linken und der extremen Rechten überlassen können.

Nußberger:
Wir sind ja in anderen Ländern konfrontiert mit der Frage nach der großen Idee. In England ist die Brexit-Idee die einzige Idee, in Amerika gilt „America first“ als große Idee. Ist das wirklich besser?

Korte:
Naja, man muss etwas Mobilisierendes entwickeln, dass für die jeweilige Demokratie auch zündet. Die beschriebenen Reparaturarbeiten, die uns alltäglich geboten werden, passen nicht im Sinne einer Erzählung zusammen. Niemand sagt, dass wir im Steuerrecht etwas ändern könnten und sollten, niemand sagt, dass wir keinen weiteren Funkmasten bauen sollten. Das alles ist stimmig, aber es sind Einzelteile. Es ist ein iterativer Prozess, der im Sinne des Alltaghandelns der Politik nicht ungewöhnlich ist. Aber es wäre eine Idee, zu sagen „Wir möchten das innovativste Land des Westens werden“ und „Dieser Weg ist nur gemeinwohlorientiert zu erreichen“: Mit zwei solchen Sätzen könnte man Ziele und Handlungen des Alltags priorisieren, darüber könnte man kontrovers diskutieren. Eine solche kontroverse Diskussion vermisse ich.

von Alemann:
Herr Voßkuhle, was halten Sie von der großen Erzählung, die wir brauchen. Steht in jedem zweiten Feuilleton.

Voßkuhle:
Große Erzählungen sind tatsächlich mächtig. Sie führen aber nicht dazu, dass die Arbeit, die gemacht werden muss, erledigt wird. Da schlägt mein protestantisches Herz näher bei denjenigen, die konkret das angehen, was zu tun ist. Ich glaube, wir dürfen das eine nicht gegen das andere ausspielen. Wir brauchen beides. Fürs Herz brauchen wir die Erzählung, die Vision, den Blick in die Zukunft.

Nehmen Sie mal den mittlerweile unumstrittenen, sehr geachteten, als ganz großen Staatslenker geltenden Helmut Schmidt, von dem der schöne Spruch stamm: „Wer Visionen hat, der sollte zum Arzt gehen“. Wir merken, dass wir in Deutschland nicht mehr in große Ideologien glauben, weil wir von großen Ideologien und großen Ideen nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus einfach die Nase voll hatten. Nach dem Krieg wollten wir wieder auf die Beine kommen und wollten, dass das Gemeinwesen wieder vernünftig funktioniert. Ich glaube, diese Grundhaltung ist geblieben und deshalb macht es für mich Sinn, wenn wir beides – Pragmatismus und visionäre Kraft – im Blick behalten.

Wir sind aber auch nicht so wertefern, wie viele meinen. Unser Verfassungspatriotismus ist relativ groß, an dieses Fundament glauben wir. Beeindruckend finde ich auch, dass wir in Deutschland auch ganz überwiegend Europäer sind. Wir glauben an die europäische Integration. Wie die einzelnen Schritte dazu aussehen sollen, darüber wird diskutiert. aber die Idee des vereinten Europa an sich ist weithin akzeptiert, was in anderen europäischen Ländern nicht der Fall ist Insofern meine ich, dass wir gute Voraussetzungen haben, durch diese Krise zu kommen.

Was mich eher beunruhigt, ist der Umstand, dass es im Augenblick so viele Länder gibt, die sich in einem labilen Zustand befinden. Wenn man in London mit Einheimischen Gespräche führt, muss man feststellen, dass die Gesprächspartner in einem hohen Maße verunsichert sind und wenig Souveränität ausstrahlen. Diese Unsicherheiten haben auch Auswirkungen auf Deutschland.

Aber mein Ausgangspunkt bleibt. Ich würde die große Erzählung nicht gegen die handwerkliche Arbeit ausspielen. Ich möchte auch daran erinnern, dass wir sehr stark von unserer föderalen Struktur leben. Wenn ein Staat nur ein Zentrum besitzt und dem Zentrum geht es schlecht, dann leidet dieser Staat. Wir erleben, dass in der Bundesrepublik sehr unterschiedliche Länder existieren, die als Experimentierfelder immer neue Dinge ausprobieren können.

Ich möchte aber auch daran erinnern, da wir gerade in Heilbronn sind, dass wir sehr starke Städte und Kommunen haben. Das macht die Bundesrepublik insgesamt sehr stark Eine vergleichbare Struktur gibt es in Europa vielleicht noch in Norditalien.

Wir müssen versuchen, in der gegenwärtigen Krise diese Strukturen nicht aus dem Blick zu verlieren. Wir haben vieles, was sehr gut funktioniert und das sollte auch weiter gestärkt werden, also Stärken stärken. Wenn es dabei Probleme gibt, muss man diese angehen. Die eigentümliche Diskussion, ob die Politik nicht weniger Föderalismus wagen und stattdessen zentraler aus Berlin agieren sollte, weil wir dann schlagkräftiger wären, befremdet mich etwas. Wenn es in einer Region wie Heilbronn-Franken 100 Weltmarktführer gibt, klingt diese Idee nicht sehr verheißungsvoll.

In Deutschland sind es die Vielfalt und der Mittelstand, die unser Land dahin gebracht hat, wo es ist. Das sollte man trotz mancher berechtigter Kritik nie vergessen. (Starker Beifall)

von Alemann:
Die Landesparlamente und die Parteien beschäftigen sich zur Zeit mit Paritätsgesetzen, wie das Land Brandenburg. Paritätsgesetz heißt, dass für das Wahlgesetz des Landes vorgeschrieben wird, dass sich bei den Landeslisten der Parteien Männer und Frauen abwechseln müssen, was von den Grünen und den Linken schon teilweise praktiziert wird. Das ist im Verfassungsrecht umstritten, weil es die Rechte der Parteimitglieder bei der Listenaufstellung beschneidet. Sind das wirklich die Probleme, die im Mittelpunkt stehen?

Ich habe vor ein paar Wochen eine Kandidatin für die SPD-Doppelspitze gefragt, wie sie dazu stehe. Sie hat es ja selbst betrieben und sagte, das sei doch klar, weil es dem Grundwiderspruch unserer Gesellschaft entspreche. Meine Antwort war die Frage, ob das der Grundwiderspruch der Gesellschaft sei.

Ich habe andere Vorstellungen vom Grundwiderspruch der Gesellschaft: Zwischen reich und arm, zwischen Gebildeten und Ungebildeten und dem alten Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Wenn die Parität aber der Grundwiderspruch der Gesellschaft ist, dann ist das ja so wichtig, dann überschattet ja das alles und wir brauchen nicht mehr an andere Quoten denken, die einem einfallen würden. Warum keine Jungenquote, warum keine Armenquote, keine Arbeitslosenquote, keine Migrationshintergrundquote, ich weiß nicht, was sonst noch.

Gehen solche Debatten über Paritätsgesetze nicht an den tatsächlichen Problemen der Bevölkerung und der Wählerschaft vorbei?

Nußberger:
Wir haben ja vorher über die repräsentative Demokratie gesprochen. Repräsentative Demokratie bedeutet, dass ich als Frau in meinem Alter nicht nur Frauen in meinem Alter, sondern dass ich alle vertreten kann, egal ob jung oder alt, ob mit oder ohne Migrationshintergrund – wenn ich denn Politikerin wäre. Das ist ja der Unterschied zu den Standesparlamenten, in denen der Adel den Adel und das Bürgertum das Bürgertum vertritt. Wenn ich anfange, alle Gruppen per Quote repräsentieren zu wollen, ist das ein anderes Politikmodell, das nicht unserem Verständnis der repräsentativen Demokratie entspricht.

Andererseits sind Akzeptanz und Vertrauen Grundlagen unserer Demokratie und Institutionen, weshalb die Vertretungsorganen in gewisser Weise einen Spiegel der Gesellschaft und der Wählerschaft darstellen sollten. Das berühmte Beispiel ist ein Männersenat mit weißen Haaren, der eben nicht die Bevölkerung repräsentiert. Eine Quotierung auch im Parlament finde ich einengend; sie steht im Widerspruch zu Freiheit und Gleichheit. Aber die Parteien müssen die Freiheit haben, zu entscheiden, wen sie aufstellen, wer Ideenträger sein soll und wer dann auch gewählt werden kann.

von Alemann:
Herr Voßkuhle, wird das Ihr Gericht auch mal erreichen? Vielleicht nicht mehr Sie persönlich. Da können Sie ganz gelassen bleiben. (Heiterkeit)

Voßkuhle:
Rechtlich möchte ich das nicht beurteilen, es könnte aber tatsächlich so kommen. Das, was Frau Nußberger gesagt hat, empfinde ich ebenso. Das Ziel ist klar. Wir brauchen mehr Frauen in vielen Bereichen z.B. der Wissenschaft und der Wirtschaft. Welche Regeln wir sonst noch brauchen, um dieses Ziel zu erreichen, das wird die Diskussion ergeben. Sie darf aber nicht dazu führen, dass wir uns von unseren grundlegenden Vorstellungen der Repräsentation und der parlamentarischer Demokratie verabschieden.

Korte:
Die Kosten, sich politisch einzubringen, sind für Frauen höher als für Männer. Ich meine nicht nur die finanziellen Kosten, sondern auch Zeitressourcen, die sich ändern. Es stellt sich also die Frage, wie kann man die Rahmenbedingungen so verändern, dass Frauen die Chancen haben, sich stärker politisch zu engagieren, etwa um ein Mandat zu erringen. Ein Großteil ihres Engagements bewegt sich bis dato im vorpolitischen Raum und im Rahmen der zivilgesellschaftlichen Kultur. Viele Frauen wollen sich darüber hinaus gar nicht mit einem Mandat hundert Prozent einbringen.

Wir haben jedoch sehr gute Erfahrungen mit den Prozessen von Bürgerkammern oder den Bürgerjurys mit dem ‚Zufallsbürger‘, wie in Baden-Württemberg gemacht. Es werden paritätisch gesetzte Körbe gebildet und dann in einem Losverfahren Männer und Frauen ausgelost. In der kommunalen Demokratie funktioniert das sehr gut, wenn man die verschiedenen Körbe mit der gleichen Anzahl von Frauen und Männern bildet. Ich finde, dies ist ein hervorragender Experimentierraum, um zu zeigen, was sich aus einem solchen Versuch entwickeln kann. Denn final braucht es wohl einen regulativen Hebel, um die Wahl von mehr Frauen bei Bundestagswahlen zu fördern.

Ob man das rechtlich sauber hinbekommt im Kontext der aktuellen Paritätsüberlegungen, kann ich nicht beurteilen. Aber mir geht es darum, Anreizsysteme so zu strukturieren, dass Frauen größere Chancen haben, sich politisch einzubringen. Dazu brauchen wir vielleicht noch klügere und zusätzliche Instrumente.

von Alemann:
Ich habe eine grundsätzliche Frage an die beiden Juristen auf dem Podium, die bei Ihnen, Herr Voßkuhle, schon angeklungen ist. Können wir durch zu viel Recht zu wenig Recht bekommen? Können wir – eine Frage an die Kommunalpolitiker hier im Raum – durch ein Dickicht im Baurecht, im Kommunalrecht, im Umweltrecht einen Zustand bekommen, wo die Rechtslage dann so kompliziert ist, dass sie von potenten Bauträgern mit der Verwaltung eher ausgehandelt wird, weil man den langjährigen Rechtsweg scheut? Kann gerade in Deutschland zu viel Recht zu wenig Recht erbringen?

Voßkuhle:
Ja. Viel Recht bedeutet nicht, dass die Dinge besser werden. Wir brauchen besseres Recht, wir brauchen gutes Recht, wir brauchen nicht unbedingt mehr Recht. Wir sind sicherlich ein Land, in dem sehr viele Dinge verrechtlicht sind, die man in andern Ländern nicht dem Recht unterstellen würde. Ich glaube, es würde uns nicht schaden, wenn wir an der einen oder anderen Stelle überlegen würden, ob wir unsere Probleme und Konflikte nicht ohne das Recht lösen könnten.

Wir sollten Abstand nehmen von der Idee, dass man in einer komplexen Gesellschaft mit einfachen Regeln alles in den Griff bekommt. Wenn alles komplizierter
wird, dann wird auch das Recht komplizierter. Ob wir aber alles verrechtlichen müssen, und ob wir auch mal an der einen oder anderen Stelle sagen, das überlassen wir dem freien Spiel der Kräfte, da habe ich meine großen Zweifel.

Mir stellt sich die Frage, warum wir so eine risikoaverse Gesellschaft geworden sind? Das viele Recht, das wir haben, zum Brandschutz, zur Sicherheit von Gebäuden, zur Lebensmitteln usw., hat etwas damit zu tun, dass wir bestimmte Risiken als Bürger nicht gerne in Kauf nehmen. Eine Möglichkeit, diese Risiken zu vermeiden, ist, dass wir sehr hohe rechtliche Anforderungen an Produkte und alles Mögliche stellen. Indem wir das tun, wird alles schwieriger: Das muss verfolgt werden, das muss durchgesetzt werden. Wir scheinen keinen guten Kompass zu haben, wo Recht absolut notwendig ist und wo nicht.

Es gibt auch zentrale Bereiche, die nicht verrechtlicht sind. Es gibt z.B. keinen „Kinderführerschein“. Sie können ein Kind bekommen, obwohl Sie überhaupt nicht die Qualifikation haben, es ordnungsgemäß zu betreuen und aufwachsen zu lassen. Offensichtlich ist die Gesellschaft in der Lage, an bestimmten Stellen zu sagen: „Nein, das wollen wir nicht regeln“.

Es wäre gemeinsam zu überlegen, ob wir uns diese Frage nicht auch in anderen Bereichen stellen müssen. Das wäre eine Frage für Ihren Heimweg, in welchen Bereichen sollte es keine Regelungen geben und ob das möglich ist. Darüber könnte man dann ins Gespräch kommen, wo wir vielleicht zu viel Regelungen haben. An anderen Stellen wird es nicht einfacher werden, wo wir das Komplizierte regeln müssen und deshalb die Regeln kompliziert sind. Auch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts werden nicht einfacher werden. Ich kämpfe seit 10 Jahren darum, aber die Streitgegenstände lassen es leider nicht zu.

von Alemann:
Damit kommen Sie mir fast schon zuvor, weil Sie schon an den Nachhauseweg denken. Aber ganz so weit sind wir noch nicht. In der Schlussrunde möchte ich eine Frage stellen, um den Bogen zu Otto Kirchheimer zu schlagen. Was ist Ihrer Meinung nach vom Werk Otto Kirchheimers am aktuellsten? Was sollten wir mit nach Hause nehmen?

Korte:
Ich denke, er ist ein Möglichkeitsmacher, der Perspektiven zulässt, weil er auf die variable Zeit verweist. Wir lechzen nach „Zeitwohlstand“. Wer uns Zeit geben könnte, würde gewählt. Ich finde, das steckt in seinem Werk.

Wir haben heute, unter den Rahmenbedingungen der Digitalisierung, häufig keine Zeit mehr. Wir sind im Jetzt verhaftet. Wir sollten z.B. überdenken, wie wir Termine vereinbaren. Früher hat man einen Termin festgelegt und zu dem Termin sind auch alle gekommen, die vorhatten zu kommen. Heute schreibt man auf dem Weg zum Termin noch fünf WhatsApp-Nachrichten, ob wirklich alle kommen. Die Redundanz ist unsere Alltagserfahrung und damit ein Gegenwartsstau.

Wir haben weder Zeit zurückzudenken noch nach vorne zu denken. Deshalb haben Parteien wie die AfD als Zeitreisepartei, die als Empörungsbewegung zukunftsängstlich daherkommen, eine Chance. Mein Plädoyer liegt darin, Zeit wieder zuzulassen, weil Zeit eine Chiffre der Freiheit ist. Zeit lässt Möglichkeiten zu, lässt Zukunftsperspektiven sich entwickeln. Ohne Zeit funktioniert das nicht, weshalb Zeit gerade unter den Rahmenbedingungen unseres „Sofortismus“, der mit der digitalen Struktur zusammenhängt, ein Ausweg wäre, um darüber nachzudenken.

Beides gehört zusammen. Mit Zeitlichkeitsstrukturen darüber nachzudenken und mit der Souveränität von Langsamkeit zu protzen. Das schafft Spielräume. Wer viel nachdenkt, wird vielleicht auch weniger auf die Idee kommen, alles zu verrechtlichen. Kirchheimer ist für mich ein Möglichkeitsmacher, der unter Zeitbedingungen klug voraus gedacht hat und davon würde ich mehr nutzen.

von Alemann:
Frau Nußberger, was sagt Ihnen der Heilbronner Otto Kirchheimer?

Nußberger:
Ich kann an dem Begriff Zeit anknüpfen, weil Otto Kirchheimer sich lustig gemacht oder ironisch gesagt hat, er hätte jetzt ein sehr dickes Buch geschrieben, die „Politische Justiz“. Das würde sowieso niemand lesen, weil niemand die Zeit dafür hätte. (Heiterkeit) Und ich sage: Nehmen Sie sich die Zeit und lesen Sie es.

Voßkuhle:
Ich bleibe dabei, impertinentes kritisches Nachfragen, ohne die Zuneigung zum Gegenstand zu verlieren. Das ist das, was für mich Otto Kirchheimer ausmacht und warum es sich immer noch lohnt, sich mit seiner Person und seinen Schriften auseinanderzusetzen.

von Alemann:
Ganz herzlichen Dank Ihnen Frau Nußberger, Herr Voßkuhle, Karl-Rudolf Korte, für diese offensichtlich auch für unser Publikum – ich habe niemand gesehen, der eingeschlafen ist – interessantes Podium. (Starker, lang anhaltender Beifall)