Interview
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Zur Lage der Volksparteien nach Fortführung der Großen Koalition und den Landtagswahlen in Bayern und Hessen.
Interview von Dr. Wolfgang Herles mit Professor Dr. Oskar Niedermayer
10. November 2017, Heilbronn

Dr. Wolfgang Herles

Professor Dr. Oskar Niedermayer
Dr. Herles:
Haben die sogenannten Volksparteien die richtigen Konsequenzen aus dem Ergebnis der Bundestagswahlen gezogen?
Prof. Dr. Niedermayer:
Eher nicht. Kanzlerin Merkel hat trotz der dramatischen Niederlage der Union geäußert, sie könne nicht erkennen, was man jetzt anders machen müsste. Und in den Monaten danach wurde in der CDU mit dem Argument, man müsse jetzt nach vorne schauen und die Regierungsbildung vorantreiben, eine die Probleme offen ansprechende Analyse vermieden. Das gilt insbesondere für den wesentlichen Grund der Niederlage, die Flüchtlingspolitik, die sie seither immer wieder einholt: im Sommer durch den Streit zwischen CDU und CSU und jetzt dann wieder im Rahmen des Kampfes um Merkels Nachfolge als Parteivorsitzende. Bei der CSU hat dieses Problem Seehofer letztlich sowohl sein Amt als bayerischer Ministerpräsident als auch als Parteivorsitzender gekostet.
Dr. Herles:
Und wie war es bei der SPD?
Prof. Dr. Niedermayer:
Der damalige Vorsitzende, Martin Schulz, hat mit Rückendeckung des Vorstands unmittelbar nach der Wahl eine erneute Koalition mit der Union kategorisch ausgeschlossen. Das war angesichts der Tatsache, dass die SPD nicht sich selbst, sondern Frau Merkel und der Großen Koalition die Schuld für ihre Niederlage gab, auch verständlich. Allerdings gab es nur eine weitere politisch halbwegs realistische Option für die Bildung einer Mehrheitsregierung. Nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen hätte man daher erkennen müssen, dass sich die SPD dem Druck, Gespräche über eine erneute Große Koalition aufzunehmen, nicht mehr verschließen konnte. Dennoch blieb man zunächst bei dem kategorischen Nein und vollzog dann eine Wende, die nicht nur vom linken Flügel heftig bekämpft wurde. Spätestens nach dem Abschluss der Koalitionsverhandlungen hätten die Chaostage in der Parteiführung beendet sein müssen. Dann beging Schulz jedoch einen zweiten Wortbruch und wollte Außenminister werden, obwohl er vorher ein Ministeramt unter Merkels Kanzlerschaft mehrfach kategorisch ausgeschlossen hatte. Danach gingen die Umfragewerte der SPD auf historische Tiefstwerte herunter.
Dr. Herles:
Bildet der Diskurs innerhalb der Volksparteien die aktuellen Großkonflikte – Migration, technologische Umwälzungen – adäquat ab?
Prof. Dr. Niedermayer:
Da sehe ich bei den beiden von ihnen angesprochenen Themen große Unterschiede. Das Migrationsproblem ist für die Deutschen zwar nicht mehr wie 2015 und 2016 das einzig überhaupt wichtige, aber weiterhin mit großem Abstand zu anderen Themen das wichtigste Thema, wie auch die neuesten Umfragen wieder zeigen. Es ist daher richtig, dass dieses kontroverse Thema in den Volksparteien diskutiert wird, und der Diskurs innerhalb dieser Parteien bildet, im Gegensatz zur Haltung z.B. von Grünen und AfD, durchaus die Bandbreite der Positionen und die Komplexität des Themas ab. Bei den technologischen Umwälzungen, also vor allem der Digitalisierung, sehe ich hingegen einen großen Nachholbedarf, zum einen in der Relevanzzumessung durch die Bevölkerung und die Parteien und zum anderen in den konkreten politischen Maßnahmen, die Deutschland in diesem Bereich wieder nach vorne bringen sollen.
Dr. Herles:
Bleiben wir bei den politischen Konflikten: Ist links-rechts noch ein hinreichendes Unterscheidungsmerkmal der Volksparteien?
Prof. Dr. Niedermayer:
Ich habe schon immer zu denjenigen gehört, die die Reduktion der gesellschaftlichen und parteipolitischen Konflikte auf eine einzige Dimension, den Links-Rechts-Gegensatz, abgelehnt haben. Die politischen Diskussionen in der Bundesrepublik wurden seit jeher durch eine ökonomische und eine gesellschaftspolitische Konfliktlinie bestimmt, die auf unterschiedlichen Wertgrundlagen fußen und sich im Laufe der Zeit gewandelt haben. In neuerer Zeit haben wir es im ökonomischen Bereich mit dem Sozialstaatskonflikt zwischen den Grundwerten soziale Gerechtigkeit und Marktfreiheit zu tun, der sich um die Rolle des Staates im wirtschaftlichen Wettbewerb dreht, also um die Frage, ob der Staat durch Umverteilungsmaßnahmen zugunsten der Benachteiligten in den Wettbewerb eingreifen soll, um für soziale Gerechtigkeit im Sinne von mehr Gleichheit zu sorgen, oder nicht. Im gesellschaftspolitischen Bereich dreht sich der Konflikt um die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens, vor allem in den Bereichen Ehe, Familie, kulturelle Identität und Migration. Hier stehen progressiv-liberale, multikulturell und globalorientierte Wertvorstellungen auf der einen und konservative bis hin zu autoritären, die nationale Identität und Kultur betonende Werte auf der anderen Seite. Wenn man das Links-Rechts-Konzept retten will, könnte man daher sagen, dass es im ökonomischen und im gesellschaftspolitischen Bereich jeweils eine linke und eine rechte Position gibt.
Dr. Herles:
Geht die Spaltung in Bezug auf diese Konfliktlinien quer durch die Volksparteien?
Prof. Dr. Niedermayer:
Ja, und zwar notwendigerweise, weil Volksparteien unterschiedliche Wählergruppen ansprechen müssen und sich daher nicht völlig einseitig auf eine Seite der Konflikte schlagen können. Daher gibt es in den Parteien auch unterschiedliche Flügel und Organisationen, die die Interessen unterschiedlicher Gruppen vertreten. Das macht ihnen natürlich Probleme, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen, wie die innerparteilichen Diskussionen über eine inhaltliche Erneuerung zeigen.
Dr. Herles:
Ist das konsensorientierte „Geschäftsmodell“ Volkspartei überhaupt überlebensfähig?
Prof. Dr. Niedermayer:
Die pluralistische Demokratie lebt davon, dass im Rahmen des politischen Diskurses die differierenden Interessen, Bedürfnisse und Wertvorstellungen verschiedener Gruppen nicht nur zum Ausdruck gebracht, sondern auch gebündelt, zusammengefasst, gewichtet und letztlich zu einer gemeinsamen Position verdichtet werden, die dann in politische Maßnahmen umgesetzt werden kann. Das kann meiner Meinung nach nicht allein durch Aushandlungsprozesse, in der Regel im Rahmen von Koalitionsverhandlungen, zwischen einseitig die Interessen unterschiedlicher und kleinerer Bevölkerungsgruppen vertretenden Parteien geschehen. Das birgt die Gefahr, dass die Interessen einiger Gruppen völlig ausgeklammert werden, oder dass statt tragfähiger Kompromisse Komplementärlösungen gefunden werden, die den jeweiligen Partnern ihre „Spielwiesen“ lassen. Ich glaube somit schon, dass das Volksparteienkonzept weiterhin tragfähig und notwendig ist.
Dr. Herles:
Was haben die Volksparteien an ihrer Misere selbst verschuldet – oder passen sie einfach nicht mehr in die Zeit?
Prof. Dr. Niedermayer:
Es ist unbestreitbar, dass sie aufgrund von Prozessen des ökonomischen, sozialen und kulturellen Wandels mit längerfristigen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Die Veränderung der Berufsstruktur, die Mobilitätssteigerung, die zunehmende Globalisierung, der Säkularisierungsprozess, die Bildungsexpansion, und die Individualisierung der Gesellschaft haben zu einer Verringerung der Größe der traditionellen Kernwählerschaften und zu einer Erosion der sozialen Unterstützermilieus geführt. Damit einher ging eine Abnahme der langfristigen festen Parteibindungen. Das alles hat zu einem längerfristigen Abwärtstrend geführt, der jedoch durch die Parteien selbst verschärft, abgemildert oder sogar umgekehrt werden kann. Denn das Ausmaß an Wählerunterstützung, das ihren Volksparteienstatus wesentlich bestimmt, hängt nicht nur von langfristigen Parteibindungen, sondern immer stärker von den kurzfristigen Wahlverhaltensfaktoren im personellen und inhaltlichen Bereich ab. Wenn die Parteien den Wählern ein optimales personelles Angebot machen und verlorengegangenes Vertrauen in ihre politische Problemlösungsfähigkeit zurückgewinnen, können sie auch heute noch deutlich höhere Werte erzielen.
Dr. Herles:
Sollten sie sich wieder schärfer voneinander unterscheiden?
Prof. Dr. Niedermayer:
Auf jeden Fall. Als Volksparteien müssen sie einerseits im Bereich der Mitte bleiben, um genügend Wähler ansprechen zu können, andererseits müssen sie sich aber hinreichend unterscheiden, um den Wählern inhaltliche Gründe zu liefern, sie zu wählen. Derzeit haben aber sehr viele Wähler und ich auch das Gefühl, dass die politischen Profile zu wenig trennscharf sind.
Dr. Herles:
Bleiben die Unionsparteien auf Platz eins unangefochten?
Prof. Dr. Niedermayer:
Die Union hat gegenüber der SPD einen strukturellen Vorteil durch die Tatsache, dass die längerfristigen Parteibindungen ungleich verteilt sind. Die Bindungen sind zwar insgesamt zurückgegangen, aber sie sind bei einem gewichtigen Teil der Wähler noch vorhanden und es sind deutlich mehr an die Union als an die SPD gebunden. Das bedeutet, dass die SPD die Union bei Bundestagswahlen nur vom Platz ein verdrängen kann, wenn die beiden Kurzfristfaktoren des Wahlverhaltens, die Orientierungen der Wähler gegenüber dem personellen und inhaltlichen Angebot, optimal zu ihren Gunsten wirken und die Union in beiden Bereichen schlecht aufgestellt ist. Das war im Verlauf der siebzigjährigen Wahlgeschichte der Bundesrepublik nur zweimal der Fall: 1972 und 1998. Es spricht also vieles dafür, dass die Union auch in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit den Platz eins behalten wird.
Dr. Herles:
Ist eine Rückkehr der Union zur 40-Prozent-Marke Illusion?
Prof. Dr. Niedermayer:
In der Diskussion der letzten Wochen höre ich immer wieder die Aussage, die Union sehne sich nach der guten alten Zeit zurück, wo sie deutlich über der 40-Prozent-Marke war. Dabei wird allzu leicht vergessen, dass diese „alte Zeit“ gerade einmal gut drei Jahre her ist: Bis zur Flüchtlingsentscheidung Angela Merkels im Herbst 2015 lag die Union nämlich in den Umfragen bei 41-42 Prozent. Eine Rückkehr zu dieser Marke wird aber schwer werden, weil seither das Grundvertrauen vieler Wähler des konservativen Teils des Bürgertums in die CDU als „Law-and-order“-Partei verlorengegangen ist und die Personalquerelen sowohl zwischen CSU und CDU als auch innerhalb der CSU auch die Schwesterpartei viel Vertrauen gekostet haben.
Dr. Herles:
Was müsste geschehen?
Prof. Dr. Niedermayer:
Die personelle Erneuerung ist in beiden Parteien auf den Weg gebracht, das ist eine Grundvoraussetzung. Inhaltlich muss die CSU dem Gefühl der Abgehobenheit entgegenwirken, indem sie sich wieder stärker an den konkreten Sorgen, Interessen und Bedürfnissen der bayerischen Bevölkerung ausrichtet. Ihre Schwesterpartei, die CDU, ruht inhaltlich seit jeher auf drei Säulen, die das Wertefundament der Partei bilden: dem christlichen Menschenbild, dem wirtschaftspolitischen Liberalismus und dem gesellschaftspolitischen Konservatismus. Angela Merkel hat dieses Fundament wesentlich verändert, indem sie die Partei sowohl wirtschafts- als auch gesellschaftspolitisch nach „links“ rückte. Damit hatte sie auch lange Zeit Erfolg. Mit ihrer Flüchtlingspolitik hat sie jedoch den „Akzeptanzkorridor“ im gesellschaftspolitischen Bereich nach Ansicht vieler konservativ orientierter Wählerinnen und Wähler verlassen, was zu einer massiven Abwanderung führte. Die CDU wäre daher gut beraten, eine moderate Kurskorrektur vorzunehmen um die Säulen ihres Wertefundaments wieder besser auszubalancieren.
Dr. Herles:
Ist die SPD weiter im freien Fall?
Prof. Dr. Niedermayer:
Es gibt Anzeichen, dass mit den erneuten Wahlniederlagen bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen die Talsohle erreicht sein könnte. Das bedeutet aber nicht, dass es automatisch wieder aufwärts geht. Personell ist die Partei in einer schwierigen Lage: Andrea Nahles ist innerparteilich angeschlagen und ihre Bewertung durch die Wähler ist im negativen Bereich. Olaf Scholz hat bessere Werte, aber das liegt größtenteils an seiner Rolle als Finanzminister und zudem hat er in der Partei viele Gegner. Inhaltlich befindet sich die Partei in einem Erneuerungsprozess, der jedoch bald abgeschlossen sein müsste, damit sich die schlechten Umfragewerte nicht verfestigen. Zudem lauern auch dort viele Fallstricke: Die völlige Abkehr von Hartz IV z.B. ist aus innerparteilicher Sicht notwendig, um die Partei endlich von ihrem Trauma zu befreien. Mit dem jetzt angedachten Konzept der weitgehend sanktionsfreien Grundsicherung begibt sie sich aber bei ihrer Stammklientel, die mehrheitlich nicht aus Hartz IV-Empfängern besteht, sondern aus Menschen, die durch ihre Arbeit die Steuereinnahmen schaffen, die die SPD verteilen will, auf dünnes Eis.
Dr. Herles:
Wäre der Austritt aus der Großen Koalition eine Chance für die Partei?
Prof. Dr. Niedermayer:
Von den Befürwortern des Austritts wird dies als Allheilmittel hingestellt. Die SPD müsse sich in der Opposition regenerieren, um neue Stärke zu gewinnen. Das muss aber nicht unbedingt funktionieren, wie das Beispiel der bayerischen SPD zeigt, die nach 60 Jahren Regenerationszeit bei 9,7 Prozent landete. Zudem ändert der Gang in die Opposition nichts an den personellen und inhaltlichen Problemen der Partei und ist angesichts von Umfragewerten um die 14 Prozent ein gefährliches Unterfangen.
Dr. Herles:
Sind die Grünen auf dem Weg zur neuen Volkspartei?
Prof. Dr. Niedermayer:
Nein. Ihr momentaner Höhenflug hat viele Gründe: das gute Spitzenpersonal, die geschlossene, nicht mehr von Flügelkämpfen geprägte Außendarstellung, die Relevanz ihres Markenkerns Umwelt und Klimawandel und die Tatsache, dass sie von der gesellschaftlichen Spaltung und Polarisierung in der Flüchtlingsfrage profitieren, weil sie den progressiv-liberalen, multikulturell orientierten Pol der gesellschaftlichen Konfliktlinie bilden. Das verwehrt ihnen aber den Volksparteienstatus. Zudem bleibt abzuwarten, wie ihre bundesweiten Umfragewerte nach den drei ostdeutschen Landtagswahlen im Herbst nächsten Jahres aussehen, wo sie darum kämpfen, sicher in die Landtage zu kommen.
Dr. Herles:
Ist bei diesen Landtagswahlen der Vormarsch der AfD noch zu stoppen?
Prof. Dr. Niedermayer:
In Ostdeutschland ist die AfD deutlich stärker als im Westen. Sie hat gute Chancen, bei den Landtagswahlen den zweiten Platz zu erreichen, vielleicht sogar beim Kampf um die stärkste Partei mitzuspielen. Ihr Abschneiden wird zum einen wesentlich von der weiteren Entwicklung ihres Markenkerns, der Flüchtlingsfrage und der Integrationsprobleme, abhängen, zum anderen aber auch von der Strategie der anderen Parteien. Die müssen klare eigene Positionen entwickeln, sie den Wählern deutlich machen und sich inhaltlich klar von den AfD-Positionen abgrenzen, ohne deren Wähler pauschal auszugrenzen.
Dr. Herles:
Herr Professor Niedermayer, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.