Podiumsdiskussion

Podiumsdiskussion

Podiumsdiskussion

Podiumsdiskussion anlässlich der Verleihung des Otto Kirchheimer-Preises 2021 an Prof. Dr. Elmar Wiesendahl zum Thema „Kennen die Parteien ihre Zukunft?“ im Großen Ratssaal der Stadt Heilbronn. 

Prof. Dr. Elmar Wiesendahl
Prof. Dr. Ursula Münch
Prof. Dr. Frank Decker
Prof. Dr. Ulrich von Alemann (Moderation)

Die Veranstaltung fand – coronabedingt – erst am 3. November 2022, Heilbronn statt

Förderverein Otto Kirchheimer-Preis e.V. - Prof. Dr. Elmar Wiesendahl

Prof. Dr. Elmar Wiesendahl

Förderverein Otto Kirchheimer-Preis e.V. - Professor Dr. Ursula Münch

Professor Dr. Ursula Münch

Förderverein Otto Kirchheimer-Preis e.V. - Prof. Dr. Frank Decker

Prof. Dr. Frank Decker

Förderverein Otto Kirchheimer-Preis e.V. - Professor Dr. Ulrich von Alemann

Professor Dr. Ulrich von Alemann

von Alemann:
Wenn ich ein weitgereister Politiker aus Düsseldorf wäre, würde ich Sie ungefähr so begrüßen: Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger der Stadt Neckarsulm…äh… wo bin ich heute? (Heiterkeit) Ich bin aber zum Glück ein Politikwissenschaftler, der schon öfters hier im schönen Heilbronn war und der sich freut, wieder hier zu sein. Und deshalb begrüße ich Sie so: Lieber Harry Mergel, lieber Bürgerinnen und Bürger der Stadt Heilbronn, liebes Ehepaar Gudrun Hotz-Friese und Harald Friese und liebes Podium.

Wir werden uns jetzt eine halbe Stunde, denke ich, mit den Themen des heutigen Abends beschäftigen und immer mit einem Rückblick auf Otto Kirchheimer mit dem Thema beschäftigen: „Kennen die Parteien ihre Zukunft?“ Harald Friese und ich haben dieses Thema nicht ohne Hintersinn gewählt.

Haben die Parteien eine Zukunft? Darüber schreibt ja jeder Leitartikler. Haben die Volksparteien eine Zukunft? Das hat Elmar Wiesendahl schon öfters beantwortet und verneint. Das Thema ist, ganz allgemein formuliert, ob die Parteien ihre Zukunft kennen.

Otto Kirchheimer war ein Stratege. Er war nicht nur wie Elmar Wiesendahl Mitglied eines „strategy institutes“, sondern war während des 2. Weltkriegs in Washington Mitglied des „Office of studies“, das die die Situation in Europa während des Krieges erforschte und Strategien für die Zukunft entwickeln sollte.

1955 hat er sich endlich von dieser von ihm nicht geliebten Aufgabe lösen können und zunächst einen Ruf auf eine Professur in New York an die „School of social Research“ und dann an die renommierte Columbia Universität angenommen, um dann seine Zukunftsideen und Visionen von der Entwicklung der Opposition und der politischen Parteien formuliert. Und wie wir gerade von Elmar Wiesendahl gehört haben, hat er diese Zukunft pessimistisch gesehen.

Lieber Frank Decker, wie siehst Du es mit der Zukunft der Parteien und dem Pessimismus von Otto Kirchheimer?

Decker:
Es gibt Politologen, die sagen, die Qualität von Demokratien ist danach zu bemessen, ob es zu Regierungswechseln kommt. Und diese Regierungswechsel werden durch Wettbewerb, den Parteiwettbewerb, herbeigeführt. Die einen werden sanktioniert und abgewählt, die anderen gewählt.

Dieses Prinzip wird durch Koalitionen durchbrochen, wenn die Mehrheiten knapp sind. Und wenn die Parteien vor der Wahl Koalitionsaussagen treffen, haben die Wähler die Möglichkeit mit ihrer Stimme zu entscheiden, wer Regierungschef wird und welche Parteien die Regierung bilden.

Ich glaube, man sollte die pessimistischen Prognosen von Kirchheimer nicht überbewerten. Auch wir Politikwissenschaftler machen Aussagen für die Zukunft. Deshalb muss man sich fragen, wie es um die eigenen Prognosen bestellt ist.

Ich habe z.B. 2005 die Große Koalition gar nicht schlecht gefunden, weil ich der Meinung war, die beiden Parteien würden gewissermaßen über ihren Schatten springen und ihre große Mehrheit dazu nutzen, eine Reformkoalition zu bilden und genau das ist nicht eingetreten. Es war eine Große Koalition, die sich lähmend auf die Politik ausgewirkt hat.

Und was haben wir erlebt bei der Bundestagswahl? Es hat einen Wechsel gegeben. Das hat man der SPD gar nicht mehr zugetraut, dass sie nochmal in der Lage sein würde, wieder den Kanzler zu stellen. Zwei bis drei Monate vor der Wahl galt dies als völlig undenkbar. Aber wir haben auch zum Unterschied zu anderen Ländern keine starken politischen Ränder. Der Stimmenanteil der Linkspartei und der AfD betrug bei der Bundestagswahl 22 % und bei der Bundestagswahl 2021 nur 15 %.

Das ist vergleichbar überschaubar, wenn wir die Entwicklung in anderen europäischen Ländern sehen, Marine Le Pen mit 40 % in Frankreich, oder Italien, in der die Regierung von einer Neofaschistin angeführt wird. Und was in den USA geschah, hätten wahrscheinlich die wenigsten von uns überhaupt für denkbar gehalten.

Bei all‘ den richtig beschriebenen Tendenzen stehen wir mit unserer Parteiendemokratie gar nicht so schlecht da. Zwei Dinge will ich nennen, die unmittelbar im Grundgesetz stehen: Artikel 21 Abs.1, wonach die Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken und ihre innere Ordnung demokratischen Grundsätzen entsprechen muss. Letzteres halten wir für selbstverständlich, aber in den Niederlanden entscheidet der Vorsitzende der Rechtspopulisten, Geert Wilders, alleine, wer die Kandidaten seiner Partei für die Parlamentswahl sind. Zweitens der Grundsatz der wehrhaften Demokratie, der in Art. 21 Abs.2 das Verbot von Parteien ermöglicht, die die freiheitlich demokratische Grundordnung beseitigen wollen.

Dazu gehört auch das System der Parteienfinanzierung, wonach der Staat für die Finanzen der Parteien mit verantwortlich ist, ohne dass dies eine Staatsfinanzierung ist.

Wiesendahl hat vom Wettbewerb gesprochen. Beim Wettbewerb geht es auch um den fairen Wettbewerb und gleiche Wettbewerbschancen. Es ist nicht zu bestreiten, dass es bei Parteien auch Kartellisierungstendenzen gibt. Die Parteien versuchen, durch die Regelung im Wahlsystem unliebsame Konkurrenz vom Leib zu halten und die aktuelle Diskussion belegt dies: Darf die AfD eine parteinahe Stiftung unterhalten, die dann auch staatliche Finanzierungsmittel bekommt? Aus dem Gesichtspunkt der wehrhaften Demokratie wurde dies bisher verhindert. Also schränken wir fairen Wettbewerb und gleiche Wettbewerbschancen ein.

Ich bin der Überzeugung, dass diese drei Grundsätze dazu beigetragen haben, dass die AfD in Deutschland keine so große Unterstützung wie vergleichbare Parteien in anderen europäischen Staaten erhält.

Wenn aber die AfD z.B. 20 % oder 30 % der Stimmen wie in den neuen Bundesländern erhält, dann ist sie ein Machtfaktor. Man muss aber weder mit ihr koalieren noch politische Macht zugestehen.

Du hast gefragt: Pessimismus? Optimismus? Ich neige zum Optimismus.

von Alemann:
Aber du würdest wie Elmar Wiesendahl die Kartellisierungsthese grundsätzlich teilen?

Decker:
Der Nachsatz dazu: beschränkt auf die Frage, wo es um institutionelle Eigeninteressen der Parteien geht. Wir haben ja gerade eine aktuelle Diskussion über unser Wahlsystem. Der Bundestag ist zu groß. Darüber sind sich die Parteien einig. Wenn es um Lösungsvorschläge geht, vertreten die Parteien knallhart ihre eigenen Interessen. Die größeren Parteien neigen dazu, sich auf Kosten der kleineren Parteien zu verständigen. Die CDU-Experten in der Wahlrechtskommission haben vorgeschlagen, das Graben-Wahlsystem einzuführen mit dem Ergebnis, dass sich die Stimmanteile der kleineren Parteien verringern.

von Alemann:
Frau Münch, anfangs der 90-iger Jahre gab es einen Song, „Die Dinosaurier werden immer trauriger“, den ich zur Überschrift für einen Essay verwendet habe. Ich meinte damit die Parteien und die damalige Parteien-Debatte. Das ist 20 Jahre her. Die Parteien leben in Deutschland immer noch. Sind diese Unken- und Kassandrarufe vom Ende der Parteien, der Parteiendemokratie, von unserem Kollegen Rolf-Dieter Narr schon 1968 publiziert, nicht allmählich langweilig geworden?

Münch:
Die Dinosaurier leben noch, aber ich glaube, sie sind ein bisschen trauriger geworden. Neulich habe ich Peer Steinbrück getroffen, der angemerkt hat, dass er mit seinem Wahlergebnis 2013 abgewatscht, Olaf Scholz mit 1 % mehr Bundeskanzler wurde.

Traurig macht, dass das Stimmenniveau abgesunken ist, und diese Trauer überträgt sich auf die Dinosaurier. Aber die Parteien, die, wie Elmar Wiesendahl sagte, sich am Kuchen beteiligen dürfen, fühlen sich wohler.

Die Bürger sind unentschieden. In einer Umfrage bedauern die Befragten, dass die Parteien nicht mehr unterschieden werden können, wünschen sich aber gleichzeitig mehr Harmonie zwischen den Parteien. Das ist schwer miteinander zu vereinbaren.

In einer Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung im Umfeld der letzten Bundestagswahl sagte ein Großteil der Befragten, ich habe als Wähler eine zweite Präferenz und wäre nicht todtraurig, wenn ich zur Not auch eine dritte Präferenz wählen könnte. Nach wie vor schätzen sich die Bürger und Bürgerinnen und die Parteien so ein, dass man in Alternativen denkt, mit Ausnahme übrigens der Wählerinnen und Wähler der sogenannten Alternative für Deutschland, die alternative Wahlmöglichkeiten nicht gesehen haben. Ein Blick nach Amerika: Vor 40 Jahren hat man keinen Unterschied zwischen Demokraten und Republikaner gesehen. Und heute traut man sich nicht ein-mal mehr über den Weg. Da ist mir die Nähe in der Mitte deutlich lieber.

von Alemann:
Vielen Dank Frau Münch. Elmar Wiesendahl, am Ende deines Vortrages hast du recht pessimistisch geklungen. Du bist, und das hat Frau Münch am Schluss ihrer Laudatio besonders betont, ein aktiver vergleichender Parteienforscher nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa. Wenn du das deutsche Parteiensystem mit Italien, Frankreich, Spanien, Polen und auch Skandinavien vergleichst, hätte das deutsche Demokratiemodell nicht eine Spur Optimismus verdient?

Wiesendahl:
Ich glaube, das ist auch eine Frage der Maßstäbe. Die von Frank Decker benannten Kriterien für Demokratie sind die Kriterien der demokratischen Elitenherrschaft, wonach die Demokratie sich erfülle, wenn die Möglichkeit der Abwahl der Regierung besteht.

Das ist mir zu wenig. Ich habe einen anderen Ansatz. Parteien sind historisch Brückenbauer, die Staat und Gesellschaft verbinden. Parteien kommen aus der Gesellschaft, dringen in den Staat ein und versuchen, den gesellschaftlichen Gruppen eine Stimme zu geben und in deren Sinne politische Entscheidungen herbeizuführen.

Welche Entwicklungen haben wir in Deutschland? Jetzt kommt mein Pessimismus. Die politischen Ränder haben zugenommen. Wegen der historischen Erfahrung aus der deutschen Geschichte, wonach der Nationalsozialismus in formal freien Wahlen in Weimar an die Macht kam, ist die Wahl von rechten Parteien tabuisiert. Parteien in der Mitte selbst die Linkspartei, sind davon nicht betroffen, so dass der Parteienwettbewerb eingeschränkt ist.

Wir müssen feststellen, dass die Parteien immer weniger in der Gesellschaft verwurzelt sind und die Anbindung an aktive Bürgerinnen und Bürger, die sich engagieren, immer mehr verloren geht.

Die Parteien sind nicht mehr in der Lage, die Wahlbeteiligung nach oben zu treiben wie in den 70iger Jahren mit 92 %. Jetzt sind wir froh, wenn die Wahlbeteiligung noch 60 % beträgt.

Die Basis der Parteien schwindet. Noch in den 70iger Jahren gab es 200 000 junge Mitglieder. Inzwischen haben die beiden großen Parteien nur noch rund 800 000 Mitglieder. Davon sind etwa 15 % aktiv. Das sind die Lastesel der Demokratie. Wenn man die Bevölkerung fragt, was haltet ihr von den Parteien und deren Repräsentanten, also die gewählten Mandatsträgerinnen und Mandatsträger, dann gab es noch nie so miese Daten wie heute. Politiker sind unglaubwürdig, denen kann man nicht vertrauen.

Was für eine unerhörte Grundeinstellung der Bevölkerung! Dabei halte ich die Arbeit der Politiker für gut, aber die Meinung der Bevölkerung ist negativ. Wer kriegt das ab? Die Parteien nicht, die Wirtschaft nicht, die Verbände nicht, die auswärtigen Mächte nicht. Nein, es sind die Mandatsträger, die gewissermaßen die Mülleimer sind, bei denen die Unzufriedenheit und die Aggressivität gegen die Parteien abgeladen wird.

Wenn das so weitergeht und nicht eine Änderung der politischen Kultur gelingt, werden wir, was Nachwuchs und Verwurzelung der Parteien in der Gesellschaft angeht, unser blaues Wunder erleben.

von Alemann:
Vielen Dank Elmar. Du hast Frank Decker angesprochen. Ich glaube, dass er sich nicht richtig verstanden fühlt.

Decker:
Ich mache mir diesen Widerspruch und dieses reduzierte Demokratieverständnis nicht zu eigen. Aber: Der Kern der Demokratie sind die periodisch stattfindenden Wahlen. Wir sehen bei allen anderen Formen der politischen Beteiligung eine starke soziale Verzerrung und das Problem ist, da stimme ich ausdrücklich zu, dass wir diese soziale Verzerrung auch bei den aktuellen Wahlen erleben, übrigens auch bei Umfragen. Es wird ja immer darauf hingewiesen, die Bürger vertrauen dem Verfassungsgericht, der Justiz, der Polizei. Aber sie vertrauen eben nicht den Institutionen, die etwas mit Parteien zu tun haben.

Ich finde das überhaupt nicht erstaunlich. Wenn Sie mich fragen, vertrauen Sie den Parteien? Da würde ich erst einmal schlucken, weil zu den Parteien in der Bundesrepublik gehört auch die AfD und alle Parteien, die wir nicht gut finden und die wir auch nicht wählen. Wir haben gerade dazu eine Studie gemacht. Das wirklich Besorgniserregende ist die soziale Verzerrung. Das Vertrauen ist ganz unterschiedlich, je nachdem wie wir den Bildungsgrad, den Sozialstatus oder die Höhe der Einkommen betrachten. Es sind vor allem diejenigen, denen es nicht so gut geht, die sich von der Demokratie abwenden.

Und das können wir an der Wahlbeteiligung sehen. Dies gilt für Großstädte und sicher auch in Heilbronn. In Köln z.B. wählen im reichsten Stadtteil über 85 %, im ärmsten Stadtteil waren es bei der letzten Bundestagswahl unter 40 % gewesen. Diese Schere ist in den letzten 20 Jahren deutlich auseinander
gegangen. Die Parteien ziehen daraus nicht die Konsequenz, in diese Wohnquartiere zu gehen, sondern sie holen die Wähler dort ab, wo sie sie finden. Dies ist ein sich selbst verstärkender Kreislauf. Auch die Politikwissenschaft muss darüber nachdenken, wie dieser Kreislauf durchbrochen werden kann.

Die Parteien, insbesondere bei den linken Parteien, gibt es eine Tendenz von dieser Problematik abzulenken, in dem man gesellschaftspolitische Themen in den Vordergrund rückt, die aber Minderheiten-Themen sind, wie z.B. eine gendergerechte Sprache. Olaf Scholz macht das ganz geschickt: „Wir müssen die Bürger und Bürger entlasten.“ Er verschluckt die gendergerechte Endung, weil er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen will. Er will als Feminist durchgehen, auf der anderen Seite jedoch das Signal setzen, dass das nicht das wichtigste Problem ist, mit dem wir es zu tun haben. Wenn wir zu einer 2/3 Demokratie der besser Gestellten und der besser Gebildeten werden, hat das mit der Idee politischer Gleichheit nichts zu tun. Das ist, lieber Elmar, der anspruchsvollere Demokratiebegriff, der sich auch in der Repräsentation widerspiegeln muss.

von Alemann:
Frau Münch, Elmar Wiesendahl hat von dem Abbau von Brücken zwischen den Parteien und der Gesellschaft gesprochen. Ähnliches hat gerade Frank Decker thematisiert in bezug auf die Stadtteile von Köln. Der reiche Anwalt in Hahnwald und die Arbeiter in Chorweiler. Der Brückenbau ist ihr Beruf. Sie sind Direktorin der Akademie für politische Bildung in Tutzing, einer der großen Akademien, in der diese Begegnungen zwischen Parteien, Bürgern, Bürgerinitiativen und Verbänden stattfinden soll. Können Sie bestätigen, dass mit den Brücken zwischen der Gesellschaft und den Parteien etwas nicht stimmt?

Münch:
Ja, das kann man schon feststellen. Es fehlt dieses „Wurzelgeflecht“, das die Gesellschaft durchdringt. Dieses „Wurzelgeflecht“ wird nicht nur von den Parteien und ihren Mitgliedern hergestellt, sondern auch von Vereinen, Verbänden und Initiativen. Dieses „Wurzelgeflecht“ fehlt vor allem im Osten Deutschlands. Nicht nur die Parteien haben Schwierigkeiten, sich an die Gesellschaft anzudocken.

Es gibt eine gesellschaftliche Sprachlosigkeit, es entsteht ein gesellschaftliches Vakuum, das z.B. von den sozialen Netzwerken ausgefüllt wird. Da werden Missgunst und ein Anti-Establishment-Denken gesät, das den Parteien und der Demokratie nicht gut tut. Dies ist nicht nur ein Unterschicht-Phänomen. Wenn ich an die möglichen zukünftigen Entwicklungen denke, bin ich manchmal pessimistisch.

Es gibt durchaus Bildungsbürger und Menschen, denen es ausgesprochen gut geht, die sich gegenüber denjenigen, die sich politisch engagieren, politisch Position beziehen und Verantwortung übernehmen, abfällig äußern. Das finde ich unappetitlich. Es gehört aber auch Zivilcourage dazu, zu sagen, so nicht, so dürfen Sie nicht reden, das steht ihnen nicht zu. Da fehlt es mir an Menschen, die klar sagen: Nein, das gehört sich nicht.

Es fehlen Menschen, die klar sagen, Ihr habt in dieser Republik verdammt viel Geld verdient, Euch geht es verdammt gut , um dann zu behaupten, die politisch Engagierten können doch alle nichts. Das finde ich unverschämt. Zur politischen Bildung gehört für mich auch, diejenigen in die Pflicht zu nehmen, die von unseren politisch insgesamt doch ausgesprochen stabilen Verhältnissen profitieren und ihnen zu sagen, sie sollen sich doch gefälligst mal am Riemen reißen. (Beifall)

von Alemann:
Vielen Dank. Das waren jetzt sehr harte, sehr klare Worte. Wenn ich auf die Uhr schaue, sollten wir jetzt die Schlussrunde beginnen. Das letzte Wort auf dem Podium soll unser Preisträger Elmar Wiesendahl erhalten.

Decker:
Ein Aspekt ist die Fragmentierung der Öffentlichkeit: Der große Jürgen Habermas hat in diese Debatte eingegriffen, und er sieht es kritisch, weil das seiner Vorstellung von, wie er das nennt, deliberative Demokratie, wo sich vernünftige Argumente im Diskurs durchsetzen, widerspricht. Das ist in der Forschung, die erst am Anfang steht, durchaus umstritten, z.B. die These von den Echokammern.

Das Medienverhalten der jüngeren Generation unterscheidet sich von dem der älteren Generation grundlegend. Die jüngere Generation bedient sich der sozialen Medien und des Internets. Das ist für die kommunale Ebene ein wesentlich größeres Problem als für die Bundesebene. Wir leben in der Talkshow-Demokratie. Wir können uns vor allem in den öffentlich-rechtlichen Sendern ein Bild von den politischen Themen machen. Auf der kommunalen Ebene funktioniert das nicht, weil es die lokalen Zeitungen nicht mehr überall gibt.

Die sozialen Medien bieten da noch keinen Ersatz. Sie werden auch von den Bürgermeistern und den politischen Repräsentanten gemieden, weil sie häufig in den sozialen Medien angefeindet werden. Da müssen wir genau hinschauen, weil die Demokratie auf kommunaler Ebene beginnt.

Zum Stichwort repräsentative Demokratie. Ich möchte zurückkommen, was Frau Münch zu Söder gesagt hat und Elmar Wiesendahl zur plebiszitären Überlagerung der repräsentativen Demokratie. Ich fand es merkwürdig, dass sich die Unionsparteien im letzten Jahr entgegen der plebiszitären Logik für einen Kanzlerkandidaten entschieden haben, mit dem sie ihre Chance, die Wahlen zu gewinnen, deutlich verringert haben. Ich bin mir sicher, dass die Union mit Söder die Nase vorn gehabt hätte. Eine Demokratie ist immer eine Gemengelage von repräsentativer und plebiszitärer Demokratie. Das wusste schon Ernst Fraenkel.
Wahlen sind ein plebiszitärer Akt und es ist für Parteien völlig normal, dass die Auswahl des Spitzenpersonals, weil sich die Parteien immer ähnlicher werden, immer wichtiger wird. Wahlen sind generelle Vertrauensentscheidungen. Wem wollen wir unser Land anvertrauen? Da darf man sich auch an Umfragen orientieren und die Person auswählen, die die besten Wahlchancen hat, was in der Demokratie nicht nur eine empirische Selbstverständlichkeit und bis zu einem gewissen Grade auch wünschenswert ist. Die SPD hat 1998 deshalb nicht Oskar Lafontaine, sondern Gerhard Schröder als Kanzlerkandidaten aufgestellt.

von Alemann:
Ich bin da zwar anderer Meinung, aber ich bin ja nur der Moderator. (Heiterkeit)

Münch:
Repräsentation ist ein zentraler Begriff unserer Demokratie. Die Bedeutung der repräsentativen Demokratie gehört in die Schulen, obwohl wir auf verlorenem Posten argumentieren, weil die Schulen nicht ausgleichen können, was in der Gesellschaft und in den Elternhäusern nicht mehr geleistet wird. Es wäre auch Aufgabe der Medien, aber auch hier stehen wir auf verlorenem Posten, weil sich die Medienlandschaft ganz massiv verändert.

Das System der repräsentativen Demokratie entlastet auch Bürgerinnen und Bürger. Ich bin jedenfalls dankbar dafür, dass es Menschen gibt, die ein Mandat übernehmen und dadurch mich entlasten.

von Alemann:
Schönen Dank. Elmar Wiesendahl, Du hast das Schlusswort.

Wiesendahl:
Ich muss zunächst das von mir in der Diskussion gezeichnete Bild korrigieren. Denn das Bild, was vermittelt wurde, ich sei ein Pessimist und stehe kurz vor einer Depression, ist nicht richtig. Wenn ich das zu Hause erzähle … (Heiterkeit)

Ich halte mir zugute, dass ich einer von denen bin, der nach Beginn der kritischen Debatte zu Parteien immer die Fahnen der Parteien hoch gehalten und immer für die Parteien eingetreten ist. Egal, ob das Mitgliederparteien waren oder Volksparteien in einem anderen Sinne, als es geschichtlich gemeint ist. In einer Massendemokratie sind Parteien elementar unverzichtbar. Wir haben einen plebiszitären Run in den Medien und der repräsentativen Demokratie und mit diesem Run laufen die Spitzenkandidaten wie Söder, um dann die Entscheidungsfindung in den Parteien zu bestimmen. Richtig ist: Die CDU hat einen Uralt-Dinosaurier-Auswahlprozess vorgenommen. Einen Mann, der gar nicht gewinnen konnte, deshalb zu wählen, um Söder zu verhindern. Das war keine Auswahl aus der Sicht der Wähler, sondern um es diesem verdammten Söder heimzuzahlen, um ihm die rote Karte zu zeigen. Es gibt eine Entwicklung, die tut mir weh. Also doch: Ich habe eine Depression. (Heiterkeit) Wenn wir uns mal den Nachwuchs angucken, der in die Spitze, also in die Parlamente geht, dies gilt auch für Gemeinderäte in den Großstädten, weniger in kleinen Gemeinden, gibt es jetzt einen Typus von Politikerinnen und Politiker, die noch nicht einmal das Studium abgeschlossen haben. Die haben als Mitarbeiter bei Abgeordneten angefangen, haben ihre Netzwerke aufgebaut, um dann mit 28 Jahren Abgeordneter oder Parteivorsitzende/Parteivorsitzender zu werden.

Wenn ich dann nach der Qualität frage, und die brauche ich in der Politik auch, um Respekt und Ansehen in der Bevölkerung zu finden, also eine Art Bestenauslese, wobei ich das eingrenzen muss, weil wir die Glocken nicht zu hoch hängen dürfen. Dieser Prozess wird mit der jetzigen Nachwuchsrekrutierung unterwandert. Das gilt übrigens für alle Parteien. Am schlimmsten interessanterweise bei den Grünen.

von Alemann:
Vielen Dank. Ich bin schon wieder anderer Meinung. Aber ich habe ja nichts zu sagen. (Heiterkeit)

Jetzt müssen Sie mal ganz leise sein. Ich frage jetzt Otto, hast Du uns gehört? Von da oben im himmlischen Internet? Ich glaube schon. Er war mit unserer mit leichtem Florett geführten Debatte zufrieden, denn er war ein scharfsinniger und streitlustiger Mann.

Ich möchte Ihnen allen danken: hier auf dem Podium, ganz besonders dem Oberbürgermeister, der uns diesen schönen großen Saal zur Verfügung gestellt hat, dem Stifterehepaar, die das alles erst ermöglicht hat und Ihnen allen, die Sie so geduldig ausgeharrt haben.

Herzlichen Dank. Ich komme immer wieder gerne nach Heilbronn. (Lang anhaltender Beifall)