Podiumsdiskussion

Podiumsdiskussion

Podiumsdiskussion

Podiumsdiskussion anlässlich der Verleihung des Otto Kirchheimer-Preises 2023 am 16. November 2023 an Prof. Dr. Frank Decker zum Thema „Krise der Parteien, Krise der Demokratie?“ im Großen Ratssaal der Stadt Heilbronn. 

Prof. Dr. Frank Decker
Prof. Dr. Isabelle Borucki
Prof. Dr. Wolfgang Schroeder
Prof. Dr. Ulrich von Alemann (Moderation)

16. November 2023, Heilbronn 

Förderverein Otto Kirchheimer-Preis e.V. - Prof. Dr. Frank Decker

Prof. Dr. Frank Decker 

© Vanessa Wittenburg

Förderverein Otto Kirchheimer-Preis e.V. - Prof. Dr. Isabelle Borucki

Prof. Dr. Isabelle Borucki 

Förderverein Otto Kirchheimer-Preis e.V. - Prof. Dr. Wolfgang Schroeder

Prof. Dr. Wolfgang Schroeder 

© David Ausserhofer

Förderverein Otto Kirchheimer-Preis e.V. - Prof. Dr. Ulrich von Alemann

Prof. Dr. Ulrich von Alemann (Moderation) 

von Alemann:
Lieber Herr Oberbürgermeister Mergel, liebes Stifterehepaar Gudrun Hotz-Friese und Harald Friese, liebe sonstige Honoratioren und liebe Bürger und Bürgerinnen der Stadt Heilbronn. Ich freue mich ganz besonders, wieder einmal bei Ihnen hier im schönen und gastfreundlichen Heilbronn zu sein. Ich freue mich darauf, dass wir wieder eine sehr hochkarätige Podium haben, einen hervorragenden Laudator, einen sehr würdigen Preisträger und ein neues Gesicht auf diesem Podium, die Politikwissenschaftlerin Professorin Dr. Isabelle Borucki. Sie hat Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie in Würzburg studiert, sie wurde in Trier promoviert und hat sich habilitiert in Duisburg, Essen. Sie hat nach nicht allzu langen akademischen Wanderungen eine Professur an der Universität Marburg für Politikwissenschaft inne.

Ich frage mich, was sollen wir überhaupt noch diskutieren, nachdem du, lieber Frank, mit einem großen Rundumschlag alle Probleme erklärt hast? Gelöst hast du sie nicht. Dieses Podium soll eine Frage beantworten, nämlich „Krise der Parteien, Krise der Demokratie?“

Früher war mehr Lametta, sagte bekanntlich Opa Hoppenstedt bei Loriot und meinte es nostalgisch. Früher war ja doch irgendwie alles besser. Frank Decker hat erfreulich schon mit diesem Mythos in der Politik aufgeräumt. Früher hätte es kaum so böse Worte gegeben, sagte doch Herbert Wehner im Bundestag. „Herr Präsident! Der Zwerg ist los“ und meinte den etwas klein gebauten FDP Abgeordneten Maier oder hat einen CDU Abgeordneten mit „Übelkrähe“ seinen Namen verhohnepipelt. Von Franz Josef Strauß ganz zu schweigen. Auch Helmut Kohl, Willy Brandt, die konnten alle ganz kräftig zulangen.

Als erstes frage ich dich, Isabelle. War früher mehr Lametta? Wie ist es mit der Krise der Parteien? Werden wir darüber sprechen? Werden wir über die Krise der Demokratie reden? Sind die Parteien nicht schon immer Krisenherde gewesen: im Kaiserreich, in Weimar, in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik? In der Gesellschaft gibt es tektonische Verwerfungen. Da gibt es Erdbeben. Und an den Rändern zwischen Gesellschaft und Staat sind die Parteien angesiedelt. Ist das also überhaupt so aufregend, dass die Parteien davon betroffen sind?

Borucki:
Ich denke, man kann das schon ein bisschen relativieren, weil die Parteien nach wie vor ein wichtiges Bindeglied zwischen Staat und Volk, zwischen Bürgerinnen und Bürgern und dem Staat darstellen. Was wir aber schon sehen, was Frank Decker eindrücklich beschrieben hat, ist die Veränderung der politischen Öffentlichkeit durch die Plattformen, also eine Aufhebung der Verbindung zwischen Bürgern und Staat durch die Parteien oder wo es eben schwierig ist, noch zu vermitteln, von oben nach unten, von unten nach oben. Durch diese Veränderung der Öffentlichkeit und die multiplen Krisenverunsichern die Menschen. Es stellt sich die Frage, ob die Parteien noch in der Lage sind, dies alles aufzufangen. Nur 2,5 % der Bevölkerung sind Mitglieder der Parteien, und es werden immer weniger. Wie lange können diese Mitglieder Multiplikatoren sein und die Transformation von unten nach oben sicher zu stellen. Welche Probleme haben die Menschen, wo liegen die Ängste und die Verunsicherungen, die Gefühle abgehängt zu sein und sich verlassen fühlen.

von Alemann:
Schon seit 20 Jahren wird immer wieder beschworen, dass die Zivilgesellschaft den Stab übernommen hat von den Parteien. Zurecht hast Du gesagt, die Parteien verlieren Mitglieder, sie verlieren Einfluss. Sie sind aber immer noch einflussreich. An ihre Stelle treten jetzt die großen neuen NGOs, die aber auch ganz schnell an Einfluss verlieren können. Woran soll man sich denn halten in der zukünftigen organisierten Gesellschaft?

Borucki:
Wir wissen, Parteien sterben aus, rein biologisch. Wenn Parteien es nicht schaffen, mehr jüngere Mitglieder zu gewinnen und da gibt es ein großes Reservoir, und dieses ist noch nicht gehoben. Die jungen Menschen wollen sich anders beteiligen. Die wollen sich projektbezogen, die wollen sich temporär beteiligen und vor allem, sie wollen am liebsten sofort etwas bewirken. Sie treten mit viel Verve, mit viel Idealismus, in eine Partei ein. Ich weiß das aus Gesprächen mit verschiedenen Parteivertretern. Und wenn dieser Effekt oder wenn diese Motivation nicht abgeholt wird, dann setzt schnell Frustration ein und dementsprechend auch schnell ein Austritt. Wenn ich heirate, ist das normaler Weise eine lebenslange Entscheidung. Wenn ich früher in eine Partei eintrat, war das auch eine lebenslange Entscheidung. Dieses Muster gilt nicht mehr. Das ist Vergangenheit.

von Alemann:
Wolfgang, Du bist vorgestellt worden mit deinem Lebensweg. Und du hast einen Ausflug in die Politik gemacht als Staatssekretär für 5 Jahre. Wo, glaubst du, hast du mehr bewirkt als Staatssekretär, Chef des Beamtenapparates eines ganzen Ministeriums? Eine hohe Position oder als „public intellectual“? Also nicht nur als Forscher und Lehrer an der Universität, sondern auch in den Medien, in denen wir dich häufig sehen oder nachlesen können? Was glaubst du, war wichtiger für die Politik und die Gesellschaft?

Schroeder:
Also ich kann das nicht bemessen. Das ist alles sehr relativ. Ich denke, man gibt da, wo man ist, sein Bestes und was das für eine Wirkung hat, hängt davon ab, wer bestimmt in dieser Gesellschaft, wo es langgeht. Ist es der Staatsapparat, ist es die Öffentlichkeit? Und da würde ich gerne anknüpfen an den Gedanken, den Frank am Ende platziert hat mit Bezug auf Reckwitz. Dieses Verhältnis der Logik des Besonderen und der Logik des Allgemeinen.

Was wir feststellen können, ist ja kein Aussterben der Parteien, kein Aussterben der intermediären Organisationen. Im Gegenteil, die wachsen, es werden immer mehr, es wird immer unübersichtlicher. Wir haben eine Veränderung eines bestimmten Typus der Logik des Allgemeinen in der Form der Institutionalisierung von Interessen und der Mobilisierung dieser Interessen.

Während wir in der Phase von Mitte der 50er Jahre bis Ende der 70er Jahre ein sogenanntes Zweiparteiensystem in Deutschland erlebt haben, wo eine hohe Form der Inklusion, der Integration, der Konzentration existierte, unter den Bedingungen eines enormen Außendrucks durch den Kalten Krieg, und einer gleichsam staatlichen Strukturierung dieses Parteienwettbewerbs, haben wir seither ja einen Prozess der Ausdifferenzierung, der den Typus der Partei auch stark verändert. Man kann sagen, die Parteien agieren als parlamentarischer Ausschuss, als gesellschaftlicher Ausschuss von gesellschaftlichen Milieus. Diese gesellschaftlichen Großmilieus, die über große Erzählungen vermittelt, gesellschaftliche Organisationen strukturieren konnten, gibt es in dieser Form nicht mehr. Aber es gibt natürlich viele Erzählungen. Diese Erzählungen laufen aber entlang der Logik des Besonderen. Das heißt, man versucht immer stärker entlang kleinerer Gruppen und kleinerer Interessenlagen sich zu organisieren. Und dann stellt sich ja schon deine Frage, die du mir auch gestellt hat. Welche Instanz ist in der Lage, diese Logik des Besonderen so zu bündeln, dass am Ende doch wieder das Allgemeine sichtbar wird und damit kollektives Handeln einer Bevölkerung, einer Region, eines bestimmten Kollektivgutes durchbuchstabiert werden kann?

Und es könnte sein, und das fände ich auch für diese Debatte noch mal interessant, dass wir augenblicklich Beobachter und Teilnehmer und vielleicht sogar selbst Akteure eines zu Ende kommenden Zyklus des Besonderen sind. Weil die Menschen, weil die Beobachter, weil diejenigen, die auf die Produktion von Kollektivgütern angewiesen sind, feststellen, dass die weitere Ausdifferenzierung der Besonderheiten nicht in der Lage ist, am Ende das Gemeinwohl so zu befrieden, dass eine Handlungsfähigkeit von Gesellschaft und Teilkollektiven innerhalb dieser Gesellschaft sich auf diese Weise wieder herstellt.
Weil das, was wir über die Ampelkoalition, um jetzt mal ganz banal zu werden, erleben, ist ja doch in hohem Maße Klientelpolitik, die sehr partiell ist und die große Schwierigkeiten hat, das Allgemeine, was eigentlich im Koalitionsvertrag verankert ist, in die Realität zu übersetzen. Und dass die Parteien in dieser Koalition diese Schwierigkeiten haben, hängt natürlich immer auch zusammen mit den Primärorganisationen, weil Parteien eher diejenigen sind, die die Primärinteressen dann wiederum bündeln müssen.

Und wir erleben ja auf der großen Bühne, dass Kirchen, Gewerkschaften, Naturschutz usw. keine Bündelung vollziehen, sondern eine weitere Parzellierung, also z.B. der Konflikt mit der GDL eintritt. Heute ist das ja nur möglich, weil wir den Nutzer dieser öffentlichen Mobilität in Geiselhaft nehmen können oder weil die Lokführer so schlecht alimentiert werden oder weil die Bahn in einer solchen Krise ist, dass es schlagfertige, homogene Partialakteure gibt, die in der Lage sind, ihre Interessen so zu mobilisieren, dass sie übersetzt werden können in Ergebnisse, die dann auch als feste Bestandteile der weiteren Kompromissbildung nicht zu ignorieren sind. Und diese Fähigkeit der Bündelung von Interessen im Sinne von Ohlson als homogener Gruppen, das ist, glaube ich, eine Entwicklung, die immer stärker um sich greift. Und die belastet natürlich auch die Parteien. Die belastet den Staatsapparat und führt am Ende dazu, dass überzeugende, klare Ergebnisse nicht formuliert werden. Das ist der Resonanzboden für den Populismus.

von Alemann:
Aber: machen wir Parteienforscher die Parteien, gerade weil wir die Parteien und ihre Geschichte so gut kennen, nicht kleiner als sie sind? Hast du es nicht auch gemacht? Sie verlieren Mitglieder, sie verlieren Einfluss in den neuen sozialen Medien. Die AfD ist dort am aktivsten, nicht die Parteien. Dennoch sind die Parteien in allen Rathäusern, in allen Landtagen, auf allen Bundesebenen präsent und aktiv und einflussreich bis in Vorstände von Bundesligaklubs. Überall gibt es den Parteienproporz noch.

Schroeder:
Ich glaube, was die Entwicklung der Parteien betrifft, sind wir auf dem Weg von den klassischen Mitgliederparteien in den Typus der französischen Kaderpartei. Und was meine ich damit? In Frankreich ist ganz klar: Man ist nicht einfach Mitglied einer Partei, weil man die gut findet und weil der Großvater schon drin war oder weil man ein besonderes Interesse dort befriedigt findet, sondern man ist Mitglied einer Partei, weil man Mitglied einer Stadtverordnetenversammlung ist, weil man Mitglied in irgendeinem Rat ist und braucht dafür die Partei, die mandatiert. Aber die Partei ist kein Lebensraum, die Partei ist keine Gemeinschaft, in der man sich sozialisiert. Am weitesten fortgeschritten ist das Prinzip der Kaderpartei in Ostdeutschland, wo es im Prinzip keine Mitglieder mehr gibt, sondern nur noch Mitglieder, die selbst wiederum Aktivisten sind. Und in dem Maße, in dem die Parteien als Aktivistenorganisationen auftreten, sind sie natürlich nur noch bedingt in der Lage, Multiplikator-Effekte in der Gesellschaft zu erzeugen, jenseits der Rationalität des Besonderen. Und wenn diese Rationalität des Besonderen nur noch über die Mandatierung funktioniert, dann sind diese Parteien natürlich super stark, weil sie in der Tat in allen Gremien in irgendeiner Weise eingebunden sind. Sie sind aber nicht mehr die gesellschaftlich verankerten Organisationen, die das Bindeglied zwischen Staat und Gesellschaft in einer starken Form abdecken, sondern im Gegenteil: Der kleinste gemeinsame Nenner in der Gesellschaft ist der Kampf gegen die Kaderpartei.

von Alemann:
Eben hat Wolfgang in Bezug auf den Bahnkonflikt von Geiselhaft gesprochen. Ist das nicht ein viel zu großes Wort? Ist denn dieser jetzige heftige Tarifkonflikt nicht ein Beispiel für Deine Kernthese, die Demokratie, wie wir sie bei uns kennen, regelt Konflikte friedlich. Ist das nicht gerade ein Beispiel, dass in Deutschland nicht die Gelbwesten auf den Autobahnen stehen, nicht die Traktoren wie in Holland die Straßen blockieren, sondern man ärgert sich, wenn der Zug weg ist? Ich musste jetzt auch mit dem Auto fahren, was etwas mühselig war. Aber man nimmt es natürlich hin, denn kaum einer in Deutschland stellt die Tarifautonomie in Frage. Ist es nicht gerade deswegen ein Beispiel, wie gut die Konfliktregelung in Deutschland noch funktioniert?

Decker:
Ja, ich hatte Wolfgang so verstanden, dass er ein Defizit im Verbandsbereich sieht, also hier bei den Gewerkschaften, dass eben auch in ähnlicher Weise im Parteiensystem abläuft, nämlich der Verlust von Integrationsfähigkeit auch im eigenen Bereich. Die GDL organisiert im Vergleich zur Eisenbahnergewerkschaft wesentlich weniger Beschäftigte. Das ist jetzt das Problem, dass solche Konflikte, und das ist ein ganz wichtiges Element auch der pluralistischen Demokratie, dass sich der Staat bei der Organisation der Arbeitsbeziehungen zurückhält. Und dieses Prinzip ist im Grunde heute weiter gültig.

Aber wir haben eine ähnliche Entwicklung, auf der anderen Seite, bei den Unternehmensverbänden, wo immer mehr Unternehmen ausscheiden, also sich gar nicht mehr dort organisieren. Und insoweit haben wir im Verbandswesen ähnliche Entwicklungen wie im Parteienwesen. Man könnte die Kirchen noch dazunehmen.

Also wir sehen überall einen Verlust an Integrationsfähigkeit. Meine These war, dass das größere Problem unserer heutigen Demokratie die Fragmentierung und nicht die Polarisierung ist. Demokratien brauchen auch Polarisierung. Sie brauchen nicht notwendigerweise die Polarisierung zwischen dem demokratischen Zentrum und den politischen Rändern. Es wäre sehr viel schöner, wenn sich das im demokratischen Zentrum abbilden würde, dass die Parteien heute pfleglich miteinander umgehen. Ich bin ja auch ein bisschen nostalgisch unterwegs und würde mir so einen scharfzüngigen Herbert Wehner, der vielleicht auch Grenzen überschreitet, geradezu wünschen. Aber wenn ich Parteien, mit denen ich morgen möglicherweise koalieren muss, die kann ich eben nicht mehr in dieser Art und Weise beschimpfen.

Das hat sich eben fundamental in unserem heutigen System verändert. Und da sind wir in einem Dilemma. Wir brauchen in einer sich fragmentierenden Gesellschaft mehr Zusammenhalt. Und gerade die Volksparteien, also diejenigen, die von vornherein auch anstreben, ein breiteres Bündnis, verschiedene Gruppen in der Gesellschaft zusammenzubringen, die wären dort gefragt. Aber ich kann, da stimme ich Isabelle zu, meinen Studenten nicht sagen: Bitte engagiert euch in politischen Parteien. Parteien sind immer noch das beste Prinzip, im Grunde auch verschiedene Interessen untereinander abzugleichen. Sie tun es aber nicht. Und deshalb müssen wir Parteienforscher eben auch darüber nachdenken, wie wir die Parteien selber, also Stichwort „Wandel der Mitgliederpartei“, also wie die Parteien dann über andere Formen sich gesellschaftlich wieder stärker verankern könnte. Wir müssen aber durchaus auch nachdenken über demokratische Partizipationsmöglichkeiten jenseits der Parteiendemokratie.

von Alemann:
Ein Wort zur Organisationsfähigkeit. Politische und moralische Großorganisationen wie Parteien, Gewerkschaften und Kirchen verlieren Mitglieder. Bei anderen Organisationen z. B. bei den Sportverbänden und dem ADAC und bei den nicht organisierten Ehrenamtlichen ist dies nicht der Fall. Es gibt also Großorganisationen mit hohen Mitgliederverlusten und andere, die ihre Mitgliederzahl relativ stabil halten.

Der Fokus liegt meiner Ansicht nach zu sehr auf den Mitgliederzahlen der Parteien, Kirchen, Gewerkschaften. Es ist ein Mythos, dass die Gesellschaft völlig in Individuen auseinanderfliegt. Auch die Zweiteilung der Gesellschaft ist ein Mythos. Wenn es eine Teilung der Gesellschaft gibt, dann zerfällt die Gesellschaft in viele einzelne Fragmente. So haben wir nun eine Krise der Parteien und eine Krise der Demokratie. Hängt das unmittelbar miteinander zusammen? Wir haben in Deutschland schon fast immer eine Krise der Parteien. Trotzdem funktioniert die Demokratie immer noch ganz gut und leidlich. Verlaufen diese Krisen also parallel?

Borucki:
Ich finde es zu einfach, das so parallel zu setzen. Wir haben es mit einer mehrschichtigen, multidimensionalen Problematik zu tun, wie wir ja auch in den beiden Vorträgen schon gehört haben. Wir haben eine Veränderung in den Einstellungen der Menschen in Bezug auf das Demokratiemodell, die Menschen stellen das Modell der liberalen, repräsentativen Parteiendemokratie in Deutschland in Frage oder sogar das westeuropäischen Demokratieverständnisses einer repräsentativen Demokratie. Und diese Skepsis findet zunehmende Unterstützung von illiberalen Demokratiemodellen, die dagegen gestellt werden, wo eben gesagt wird, es ist doch auch ein demokratisches System, was habt ihr denn eigentlich? Und es wird auch argumentiert, dass eine ausschließlich direktdemokratisch funktionierende Konstitution mit Vorteilen behaftet wäre und das bei uns genauso toll funktionieren würde wie in der Schweiz.

Dabei wird aber oftmals vergessen, dass die Schweiz eine völlig andere Geschichte hat, Multikulturalität und Föderalismus gehörten immer zur Schweiz. Und dass im Grunde schon immer die SVP als die rechtspopulistische Partei mitregiert hat. Und ja, das funktioniert. Deshalb sind solche Vergleiche immer problematisch.

Frank hat thematisiert, welche Möglichkeiten gibt es, anhand demokratischer Innovationen weitere Teilhabe und Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen, die nicht notwendigerweise eine Parteimitgliedschaft erfordern? Also wie kann man die Menschen aktivieren und mobilisieren, sich politisch zu beteiligen? Darum geht es doch, dass die Abgehängten, die Transformationsverlierer, so würde ich sie jetzt mal benennen, also diejenigen, die sich abgehängt und verlassen fühlen, wie kriegen wir diese wieder aktiviert und interessiert? Vor allem für die Demokratie?

Denn in den verschiedenen Umfragen sehen wir immer, die Leute interessieren sich erst gar nicht für Politik. Da müssen wir doch ansetzen. Das wäre eine These und eine Überlegung. Wenn wir über Krisen reden, wie kriegen wir die Krisen abgewendet beziehungsweise wie kriegen wir unsere Demokratie gestärkt?

Schroeder:
Der Ausgangspunkt ist doch eine relativ starke, teilweise gesteigerte Unzufriedenheit mit den Ergebnissen von Politik, mit den Ergebnissen von Wirtschaft, was sich insbesondere festmacht an Dysfunktionalitäten der Infrastruktur, von der Bahn über die Brücken, die Autobahn, den Verkehr, das Wohnen und diese Unzulänglichkeiten der Infrastruktur, die die Bürger in unterschiedlicher Weise belasten. Und es ist ein Unterschied, ob ich reich oder arm bin, ob ich den öffentlichen Verkehr nutze oder nicht.

Diese Unzufriedenheit mit dem Output ist keine mathematische Größe. Die gab es immer, und die ist dann natürlich größer, wenn die Sensibilität der Bürger größer ist, wenn es Alternativen gibt, wenn es die Fähigkeit zur Kritik in übergroßem Maße gibt. Und die gibt es eben durch den Strukturwandel der Öffentlichkeit und Social Media. Es gibt da keinen Gatekeeper mehr, der das kontrolliert und strukturiert. Und wenn wir von der Unzufriedenheit mit dem Output ausgehen, dann kommt man ja ziemlich schnell zu den Organisationen, die vielleicht in der Vergangenheit besser in der Lage gewesen wären, diesen diese Unzufriedenheit aufzunehmen, sie zu kommunizieren und Erwartungen plausibler Art zu entwickeln, dass es besser werden könnte. Und da haben wir in der Tat eine Schwäche der intermediären Organisationen, dass sie die Plausibilität des Besseren nicht unbedingt auf ihrer Seite haben. Und das hat nach meinem Dafürhalten drei Gründe.

Erstens: Wir haben es mit einer Emanzipation der Individuen gegenüber den intermediären Organisationen zu tun. Das heißt, man ist nicht mehr auf diese Organisationen so angewiesen. Wenn man früher im öffentlichen Dienst war, hatte man den Eindruck, man muss da jetzt in der ÖTV sein, weil sonst wird es schwierig mit den Beförderungen. Und wenn man bei der IG Metall Betrieb war, musste man in der IG Metall sein. Das gibt es heute vielleicht noch bei VW, aber sonst glaube ich kaum noch.

Zweitens haben wir eine enorme Ausdifferenzierung der Interessen.

Drittens glaube ich, der Krisenbegriff führt in die Irre, weil diese Debatte über Krise führen wir seit 50 Jahren und die erbringt auf der Erkenntnisebene keine wirklich neuen Erkenntnisse. Und deshalb würde ich das Augenmerk stärker auf den Output legen. Also, was leisten diese Organisationen sowohl in der Logik des Besonderen wie in der Logik des Allgemeinen und im Hinblick auf ihre Funktionen?

Da fällt mir immer wieder auf, dass z.B. die Gewerkschaften natürlich weiter ihren Job machen, die machen Tarifverträge, die sind interessiert, die Arbeitsbedingungen so weit wie möglich zu optimieren. Aber was sie nicht mehr leisten können, und immer weniger leisten können, ist eine gemeinschaftsbildende Funktion, eine Sozialisationsfunktion wahrzunehmen.

Und das Gleiche gilt für die Parteien. Auch sie haben kaum Möglichkeiten in der Sozialisationsentwicklung, sie haben kaum Möglichkeiten in der Gemeinschaftsbildung. Und dieser Verlust an Gemeinschaft, der durch die Großorganisationen im Zuge der Integrationsschwäche festzustellen ist, der wurde teilweise durch neue Organisationen in anderen Bereichen und teilweise durch den Populismus aufgefangen. Und in diesem Sinne ist der Populismus schon eine Reaktion auf die Dysfunktionalitäten dieser bisher über intermediäre Organisationen klassischer Art vermittelten Interessen und Ausgleichsfunktionen, vor allem der Gemeinschaftsbildung. Man wird den Populismus in seiner grausamen Art nicht verstehen können, wenn man die positiven Seiten des Populismus im Hinblick auf die Gemeinschaftsbildung und die Integration nicht mitberücksichtigt.

Decker:
Dem stimme ich absolut zu, dass das zentrale Problem das gute Regieren ist, das es nicht gibt. Wir können uns ja als Politologen intensiv mit dem Input beschäftigen und dort auch über Reformen nachdenken. Wenn wir mal ehrlich sind, all‘ diese Dinge wie Bürgerräte, das hattest du ja auch kurz angesprochen in der Laudatio, das wird die Zufriedenheit mit dem Output nicht vergrößern. Und wir haben in Studien die Frage nach der Zukunft gestellt: Wird die Zukunft was Besseres bringen? Wenn heute noch nicht mal mehr 20 % positiv in die Zukunft blicken, waren es in den 70er Jahren, ein durchaus krisengeschütteltes Jahrzehnt, 90 % gewesen, dann hat sich in unserer Gesellschaft fundamental was verändert.

Und deshalb wäre ich auch ziemlich pessimistisch. Ich will jetzt nicht so weit gehen zu sagen, die Demokratie ist eine Schönwetterveranstaltung, aber wir können das historisch sehen, dass der Extremismus in solchen Umbruchzeiten gedeiht. Dies gilt auch in Phasen, wo es im Grunde um die grundsätzliche Frage der Identität in einer Gesellschaft geht. Und ich glaube, dass wir jetzt in einer solchen Umbruchphase sind.

Das war vielleicht von vornherein falsch, der Ampel irgendwie auch so ein Projektcharakter zu unterlegen, aber sie ist ja selber daran schuld gewesen, indem sie sich als Fortschrittskoalition bezeichnet hat. Und ich weiß nicht, Wolfgang, ob du mir zustimmst, aber dieses Fortschrittsprojekt Ampel ist gescheitert, das kann man jetzt schon festhalten. Und wir sehen bei einer für die Zukunft zentralen Frage, nämlich der Begrenzung des menschengemachten Klimawandels, ein Zurückweichen der Politik unter dem Druck des Populismus, also unter dem Druck der Gegenkräfte. Deshalb, glaube ich, liegt eine gewisse Rationalität in einer künftigen Großen Koalition, weil die Konsensbasis von Union und SPD dort eine größere ist. Eine große Koalition führt dann nicht zum guten Regieren, wenn sie die Probleme nicht tatsächlich angeht, dann werden uns diese Probleme in Form von Wetterereignissen in spätestens 5 oder 6 Jahren einholen.

Haben wir ein Problem mit der Repräsentation in der repräsentativen Demokratie? Wie kann man dem entgegentreten? Ich glaube, es gibt vielleicht eine Institution, wo man das verorten kann, wo man auch dieses deliberative Element verorten kann. Das ist die Verfassungsgerichtsbarkeit, die der Politik gerade gesagt hat, also hört auf mit diesen Tricksereien, sondern macht euch ehrlich an der Stelle. Aber die Politik ist eben nicht bereit, auch ehrlich zu sagen, wenn wir massiv in die Zukunft investieren müssen, dann müssen wir über die Frage der Schuldenbremse nachdenken, die dann zum Tabu erklärt wird.

Und wenn ich dann die Kommentare in der FAZ lese, ist von der Möglichkeit von Steuererhöhungen von vornherein überhaupt keine Rede mehr. Und da muss sich die Politik eben ehrlich machen. Aber warum tut sie das nicht? Weil sie sich vor dem Volkszorn fürchtet. Und den Volkszorn, den lenken die Populisten auf ihre Mühlen.

Man kann natürlich dann auf den armen Habeck einprügeln, wie wenig professionell er das Heizungsgesetz gemacht hat. Aber ich glaube, die Parteien sind insgesamt konzeptionell nicht wirklich vorbereitet gewesen auf diese Fragen der sozial-ökologischen Transformation. Dabei muss der soziale Aspekt betont werden, weil man diesen Transformationsprozess, diese Veränderungen nur in der Gesellschaft durchsetzen oder dafür Akzeptanz gewinnen kann, wenn die Bürger oder wenn ein relevanter Teil der Bürger nicht den Eindruck bekommt, dass er selber dabei auf der Strecke bleibt. Und das haben die Parteien, das haben sie einschließlich der Grünen programmatisch nicht hingekriegt. Also alles, was da jetzt stattfindet, ist im Grunde eine nachholende Entwicklung und das innerhalb eines Regierungsprozesses. Das geht in den seltensten Fällen gut.

von Alemann:
Diese soziale Seite des sozial-ökologischen Wandels haben die Grünen, um sich anzupassen, mehr und mehr aus den Augen verloren und die SPD erst recht. Diesen Wandel wird in der zweiten Hälfte der Ampel die FDP aus missverstandenem Sintflutgedanken – sie befürchtet im nächsten Bundestag und den meisten Landtagen nicht mehr vertreten zu sein – blockieren. Ist es eigentlich normal, dass das Bundesverfassungsgericht einen dermaßen tiefen Eingriff in die Politik vornimmt, nämlich 60 Mrd. € zu blockieren. Du hast im Grunde die Richtung angedeutet, dass wir froh sein können, dass es noch Akteure und Institutionen in unsrem politischen System gibt, die den Mut haben, der Regierung in den Arm zu fallen.

Ich glaube, es wäre jetzt an der Zeit, Sie als Publikum in die Diskussion .mit einzubeziehen. Wer möchte der Erste sein? Bitte schön!

Günter Häusler:
Ich bin Rentner und möchte eine Frage an Herrn Prof. Decker stellen. Die Sprache der Parteien wird vom Wahlvolk im Wesentlichen bemängelt. Sie haben auch festgestellt, dass Ihnen manche Grantler fehlen. Wehner haben Sie genannt. Es gibt noch andere Kandidaten. Ich glaube, wir sind in einer Renaissance der Grantler. Sie brauchen da nur nach Bayern zu schauen. Ich meine damit nicht Sie, Frau Professor Münch, Sie haben Ihren Stammtisch.

Ich denke an Herrn Aiwanger. Der mag manchmal populistisch argumentieren. Aber er hat es immerhin geschafft, bei seiner Landtagswahl ein Wahlvolk zu mobilisieren. Er hat seine Partei nach vorne gebracht, weil er klar spricht. Er spricht so, wie im Grunde genommen die Bayern das hören wollen. Und ich habe auch manchmal den Eindruck, dass Herr Söder sich manchmal stark einbremsen müsste, um nicht in diesen Jargon zu verfallen. Also: ich sehe da schon ein gewisses Potenzial an Politikern, die endlich kapieren, dass man vielleicht auch mit dem Volk etwas anders reden muss.

von Alemann:
Frank, du bist angesprochen.

Decker:
Diese Debatte wurde im August geführt und der Aiwanger und die Freien Wähler sind ja gut aus dieser Debatte bei den Wahlen herausgekommen, weil sie sich – und das ist Rechtspopulismus pur – als Opfer einer Medienkampagne inszeniert haben. Und Wolfgang, du hattest ja gesagt, dass bei der Bundestagswahl 2021 die AfD im Westen deutliche Einbußen erlitten, während sie im Osten nahezu stabil geblieben ist. Wir haben nach 2017 eine fortschreitende Radikalisierung der AfD erlebt. Die AfD ist de facto eine rechtsextreme Partei, die gleichzeitig eine rechtspopulistische Partei ist. Und meine Erklärung war, dass eben der Extremismus im Westen, in der alten Bundesrepublik, abschreckend wirkt auf einen Teil der Wählerschaft, wie das Bildungs-, eher Besitzbürgertum, das vielleicht ansonsten für die Botschaften der AfD durchaus ansprechbar war. Aber wenn die Partei zu extremistisch ist, werden diese nicht erreicht. Und jetzt sehen wir, dass die AfD zum Beispiel in Baden-Württemberg in den Umfragen bei 20 % liegt, also im Bundesdurchschnitt. Und mir ist bei dieser Aiwanger Geschichte deutlich geworden, dass wir uns vielleicht, was den antiextremistischen Konsens angeht, in der Bundesrepublik auf dünnem Eis bewegen, als wir uns das immer haben selber glauben machen wollen. Deshalb glaube ich und ich würde Ihnen zustimmen, dass nichts dagegen spricht, dass man auch im demokratischen Spektrum mal zuspitzt.

Gerhard Schröder hat mal gesagt, es darf nicht länger deutsches Geld in Brüssel verbraten werden, Das ist gegen die EU gerichtet und gleichzeitig Antiestablishment. Oder wenn die Populisten sagen, wir wissen, was der Volkswille ist, wir reklamieren das für uns. Die Parteien reklamieren für sich immer, dass sie das Gemeinwohl richtig interpretieren. Wahlkämpfe sind ja ohnehin keine Seminare, wo dann Habermas oder habermas‘sche Diskurse stattfinden, da darf durchaus übertrieben und zugespitzt werden.

Unser Problem ist heute, dass diese Zuspitzung stattfindet zwischen dem Zentrum und den Rändern. Und je mehr das Zentrum dann gezwungen ist, zusammenzurücken, umso stärker können dann die Ränder werden. Das ist ein großes Problem. Aber wir brauchen weiter die Zuspitzung im politischen Zentrum. Und wenn dann Politiker in der Lage sind, eine klare Sprache zu sprechen, kann das ja nicht von Nachteil sein. Das muss nicht in einer populistischen Weise erfolgen.

Wenn ich jetzt an den Bundeskanzler denke, haben wir Defizite in der Politik. Gerade in diesen Zeiten großer Verunsicherung muss in der Tendenz mehr und auch überzeugender kommuniziert werden. Und das braucht dann nicht notwendigerweise auf eine populistische Weise geschehen. Ich glaube, da haben wir auch ein Problem mit dem politischen Führungspersonal. Ich glaube, Robert Habeck hat zum Beispiel mit seiner Rede, die er zu Israel und Hamas in den sozialen Medien gehalten hat, ein gewisses Defizit kompensiert. Und Scholz ist halt, wie er ist, der wird sich auch nicht mehr ändern.

von Alemann:
Vielen Dank. Gibt es noch weitere Fragen? Ja, bitte schön.

Christoph Eberlein:
Mein Name ist Christoph Eberlein. Ich komme aus der Heilbronner Südstadt. Ich möchte zum einen daran erinnern, dass die SPD 2012 einen Kanzlerkandidaten aufgestellt hat, der mit einer sehr klaren Sprache aufgefallen ist, der damalige Finanzminister Peer Steinbrück. Das Ergebnis bei der Bundestagswahl 2013 war bekannt. Das war bis dahin das schlechteste Ergebnis der SPD. Deswegen möchte ich da widersprechen, dass klare Worte das Lösungsmittel sind. Wir haben eine Kanzlerin Merkel erlebt, die nun nicht gerade durch klare Worte aufgefallen ist, die 16 Jahre regierte.

Zweiter Punkt: Ich möchte Ihnen widersprechen, nach 23 Monaten Legislatur zu sagen, die Ampel ist gescheitert, ich würde da mehr Zeit geben.

Und Drittens: Ich bin ein bisschen enttäuscht von der Diskussion. Ich habe zwei Preisträger auf dem Podium des einzigen Preises für Politikwissenschaft in Deutschland und zwei weitere Politikwissenschaftler. Ich hörte aber nur Zustandsbeschreibungen, Ich hörte keine Lösungen. Da hätte ich mir doch etwas mehr erwartet. Wir wissen, dass Parteien Mitglieder verlieren. Wir wissen, dass die Wahlbeteiligung sinkt. Aber was uns natürlich interessiert, wie kann es besser werden für uns Bürgerinnen und Bürger. Was können Parteien besser machen? In dieser Runde sind viele Parteienvertreter vom Bund und vom Land anwesend, die sicher ganz aufmerksam zuhörten. Zustandsbeschreibungen sind Ihnen bekannt. Vielen Dank!

von Alemann:
Ja, vielen Dank. Ich habe schon einiges Konstruktive gehört. Wir brauchen z.B. mehr Ergebnisse, also die Outputorientierung, wie wir Politologen das nennen. Wir brauchen neue Formen der Gemeinschaftsbildung. Also es gibt schon Ansätze.

Borucki:
Ich möchte einen Punkt noch mal hervorheben. Sie haben den Steinbrück-Wahlkampf angesprochen. Hier stellt sich die Frage, wie muss Kommunikation der jeweiligen Situation angemessen bzw. angepasst sein? Ich möchte betonen, dass wir zwischen Wahlkämpfen und dem Alltag einen eklatanten Unterschied in der Kommunikation haben.

Regierungskommunikation bedeutet, einfach und verständlich zu kommunizieren, was eine Regierung gerade tut, welche Gesetzentwürfe sie verabschiedet und vor allem, warum sie das tut: Da gibt es Defizite. Da haben Sie vollständig recht. Und im Wahlkampf ist es logisch, dass zugespitzt wird, weil man ja Wählerstimmen gewinnen möchte.

Ihre Frage nach den Lösungen. Ich denke, wir haben das angerissen. Ich sehe uns aber ehrlicherweise nicht an erster Stelle, um Lösungen zu erarbeiten. Wir sind schon eher dafür da, um erst mal Analysen zu liefern, insbesondere auch empirische Analysen, um Zahlen zu liefern und auf Basis dieser dann gemeinsam, wenn es gewünscht wird, mit der Politik Lösungsstrategien zu erarbeiten. Aber wenn wir nur an Lösungen arbeiten würden, kämen wir auch gar nicht mehr dazu, Studentinnen und Studenten auszubilden.

Ihre Frage, was können Parteien aber machen? Das Problem ist „ganz einfach“. Parteien sind für jungen Leute nicht attraktiv. Was ist denn das Spannende an Parteien? Warum ist es denn toll, in einer Partei mitzuarbeiten? Und das ist, zumindest erzählen mir das Parteimitglieder, da gibt es eine gemeinsame politische Grundlage, dass sie ganz besondere Vereine sind und halt nicht ein Fußballverein und nicht ein Gesangsverein, sondern ein durch und durch politischer Verein. Und das wird nicht ausreichendkommuniziert. Und insofern ist es auch die Aufgabe eines jeden einzelnen Parteimitglieds, dies wieder stärker zu kommunizieren, aber da gibt es keine Patentrezepte.

Und gerade angesichts der Fragmentierung der Gesellschaft und der Fragmentierung der Öffentlichkeiten ist es sehr, sehr schwierig, Menschen zu erreichen, um sie zu aktivieren und zu sagen, wir machen hier was Spannendes und es wäre toll, wenn du mitmachst, komm doch mal vorbei.
Und ein ganz wichtiger Faktor, den wir noch gar nicht genannt haben Die Leute sind alle gestresst. Die haben keine Zeit. Die haben Jobs, die haben Kinder, die engagieren sich sozial. Zumindest die Menschen in ihrer Burn-out-Phase, also zwischen 35 und 55, 65, die müssen einen oder diverse Jobs unter einen Hut bringen. Ich weiß, wovon ich rede. Ich gehörte zu dieser Gruppe. Dann auch noch ein zeitintensives Ehrenamt, was Partei, und Parteimitgliedschaft ja oftmals mit sich bringt, wenn man aktiv dabei sein will. Das ist die etwas komplexe Gemengelage.

von Alemann:
Ich glaube, mit dem Zeitbudget haben sich noch wenige von unseren Kollegen beschäftigt. Wenn Sie daran denken, wie viel Freizeit ein Jugendliche in den 50er, 60er Jahren hatte. Das Fernsehen spielte noch keine Rolle, die sozialen Medien gab es noch nicht. Die Medienangebote, die Computer, Computerspiele, die Fitnessclubs usw.. Was für eine ungeheure Konkurrenz gibt es heute auf dem Freizeitmarkt für Jugendliche und junge Erwachsene. Da stehen die Parteien, die Gewerkschaften, die Kirchengemeinden mit ihren Heimabenden ganz schön in der Tinte. Lösungen sind gefragt. Habt ihr noch was anzubieten?

Schroeder:
Wir denken über Lösungen nach. Insofern habe ich die Kritik nicht ganz verstanden. Die Lösungen sind nicht in einem Katalog enthalten, dass man sagen kann, auf Seite 354 kann man das Lösungsangebot finden. Es ist klar, die Parteien haben sich verändert. Die Art und Weise, wie der Staat operiert, hat sich verändert. Hier ist viel über Öffentlichkeit und Aktivierung gesprochen worden. Worüber wir wenig gesprochen haben, ist über die Verrechtlichung der Bedingungen, unter denen neue Lösungen gefunden werden könnten.

Und das scheint mir ein zentrales Problem zu sein für eine Gesellschaft, die sich veränderungsorientiert aufstellt, und einer politischen Klasse, die, wenn sie ehrlich ist, darauf hinweisen muss, dass sich diese Veränderungen so schnell, so nachhaltig und so umfassend, wie sie angedacht sind, nicht umsetzen lassen, weil es rechtliche Bedingungen gibt, die das nicht ermöglichen.

Beispiel. Ich habe in dieser Woche mit einem Kollegen einen Aufsatz über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk geschrieben. Was mich dabei seit einigen Jahren umtreibt, ist die Auseinandersetzung mit dieser elementaren Einrichtung für unsere Demokratie. Also: Wie sind die Medien aufgestellt, die wir brauchen, um eine demokratischere Gesellschaft zu werden?

Das ist aber kein Thema der Politikwissenschaft. Und dann denkt man, Medien und Demokratie, das sind doch zwei Seiten einer Medaille. Wenn man ein bisschen nachdenkt, insbesondere für die Teildisziplinen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, ist man sehr schnell damit konfrontiert, dass dies eine Domäne der Juristen ist, weil sie jeden Vorschlag, den ich unterbreiten kann zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen Sender und Empfänger, zwischen öffentlich- rechtlichen Rundfunk, Staat, Zivilgesellschaft und Bürgern beantworten können. Das steht doch im Bundesverfassungsgerichtsurteil 61712, im Staatsmedien Vertrag, in Verwaltungsgerichtsurteilen usw.. Es gibt eigentlich keinen Gedanken, der da nicht schon ventiliert worden ist und der entweder positiv oder negativ beschieden wurde. Und insofern ist das auch unser Thema heute: Demokratie und Populismus. Eine der entscheidenden Kräfte, die den Populismus nach oben treibt, ist unsere komplexe Verrechtlichung unseres Systems, weil der Populismus, von jeder Form der Verrechtlichung abstrahieren kann. Er kann sagen, das interessiert mich nicht, macht gefälligst. Der Populismus ist am Ende output-orientiert und sagt, ihr müsst machen, dafür seid ihr gewählt.

Und der verantwortliche, wahrheitsgetreue Politiker wird sagen: Ja, wir würden ja gerne, aber es gibt europäisches Recht, es gibt deutsches Recht, es gibt Landesrecht usw.. Das heißt, wir müssen erst mal unter den Bedingungen dieser komplexen Materie einen Weg finden, eine Einflugschneise hinbekommen.

Und ich meine, die Dominanz der Juristen in Politik und Verwaltung ist natürlich auch ein Problem, weil Juristen ticken entlang der Logik der Verrechtlichung und sind durchaus bereit, mit Frustrationstoleranz das alles hinzunehmen, währenddessen diejenigen, die ein Interesse an Veränderung haben, sich darauf besinnen müssen, wie man diese juristisch verrechtlichen Sphären zumindest. als Herausforderung in den Raum stellt.

Wenn man über die Frage besserer Politik und einer besseren Kommunikation zwischen Gesellschaft und Politik nachdenkt, ist schon die Professionalität der Politiker ein Problem. Das ist auch ein Gebiet, dem wir uns vielleicht zu wenig widmen. Und da sind zwei diametral entgegengesetzte Positionen zu berücksichtigen. Die erste ist, dass wir eine deskriptive Repräsentativität feststellen und sagen, ja, das sind 90 % Akademiker. Aber die Wirklichkeit in der Berufswelt sieht anders aus. Wo bleiben die anderen?

Das wird man aber nie hinbekommen, dass man eine komplette Entsprechung der deskriptiven Repräsentativität erreicht. Wir brauchen eine substanzielle. Und das bedeutet, dass diejenigen, die in die Politik gehen, die müssen ihre Lebenslage, ihre Berufslage transformieren und müssen sich auch für die Lebenslagen und Berufswirklichkeiten anderer interessieren.

Und dann sind wir bei der Frage der Professionalisierung Was können wir tun, um die Professionalität der Logik des Allgemeinen in der Politik zu stärken?

Und da könnten die Parteien mehr tun, Da kann der Staat mehr tun. Also da sind durchaus Spielräume, die zu wenig genutzt werden und die durchaus auch in der Öffentlichkeit stärker eingeklagt werden sollten. Aber das fängt bei der Rekrutierung der Parteien an, dass sie häufig zu wenig Angebote haben, dass sie auch durch ihre Repräsentativitätslogik schon teilweise eingeschränkt sind. Weil die Parität, so sinnvoll sie für die gesellschaftliche Entwicklung ist, kann auch zur Konsequenz haben, dass Leute, die gewisse Kompetenzen mitbringen, nicht zum Zuge kommen, weil die Parität das verhindert, z.B. die Geschlechterparität. Darüber muss man auch diskutieren. Da gibt es so eine Reihe von Trade Offs, die nicht so einfach zu akzeptieren sind, wenn man eine gute Qualität der Demokratie will.

von Alemann:
Lieber Frank, jetzt bist Du dran für das Schlusswort, Du bist der Preisträger.

Decker:
Ich habe in meinem Vortrag gesagt, wenn nach Lösungen gefragt wird, sind unsere Antworten in ihrer Allgemeinheit oft etwas wohlfeil. Wenn es um den Extremismus geht, sagen wir immer, wir brauchen mehr politische Bildung. Auch das ist wohlfeil, und das ist ein Ausdruck der Hilflosigkeit. Über das, was Gemeinwohl ist oder das Gemeinwohl gebietet, gibt es zwischen Politikern politischen Streit. Das ist sozusagen das Wesen der liberalen Demokratie. Trotzdem kann man versuchen, eine gemeinsame Position zur Definition des Begriffes Gemeinwohl zu finden. Eine Verfassung ist ja auch nichts anderes als die Festschreibung gewisser Definitionen des Gemeinwohls. Zumindest auf der Werte- oder Verfahrensebene kann man das zumindest negativ definieren. Wenn wir jetzt zum Beispiel den Klimaschutz weiter hinausschieben, ist dies nicht im Sinne des Gemeinwohls. Also wie können wir diese Interessen im politischen Prozess in der repräsentativen Demokratie stärker einbringen?

Zu den Parteien gibt es keine Alternative. Und dann ist es möglicherweise eine Institution wie das Bundesverfassungsgericht, die man einfach braucht, um die Politik daran zu erinnern, ihr dürft auch die Interessen der künftigen Generationen nicht aus dem Auge verlieren. Die Parteien und das Bundesverfassungsgericht reichen aber nicht aus. Wir müssen darüber nachdenken, ob wir andere Beteiligungsformen brauchen.

Ich hatte gestern einen ganz interessanten Termin in Stuttgart in der Staatskanzlei, welche die Bürgerbeteiligung voranbringen will. Interessant war dabei auch die Einrichtung von Bürgerräten auf Bundesebene. Aber womit beschäftigt sich der erste eingerichtete Bürgerrat? Er beschäftigt sich mit dem Thema „Ernährung“. Im Vorfeld gab es andere Themenvorschläge wie z.B. „Tempolimit“. Das Tempolimit ist ein ganz interessantes Beispiel dafür, dass die Politik objektiv gemeinwohlwidrig handelt, denn sachlich spricht alles für ein solches Instrument. Und überdies, das ist ein demokratisch starkes Moment, gibt es demoskopisch relativ klare Mehrheit für ein Tempolimit. Es gab also die Überlegung, wir machen einen Bürgerrat zum Thema Tempolimit.

Das haben bestimmte Parteien mit dem Argument abgelehnt, weil man zwar über alles reden kann, aber nicht über das Tempolimit. Damit werden wir die Akzeptanz von Bürgerräten nicht nur nicht fördern, sondern werden die Akzeptanz untergraben. Die Bürger durchschauen so etwas, dass solche Angebote reine Feigenblätter oder Alibiveranstaltungen sind. Wenn man solche Angebote ernst nimmt, kann man möglicherweise zu Empfehlungen kommen, die dann, wenn sie von der Politik umgesetzt werden, die Sache voranbringen. Auch die Politikwissenschaftler denken über die Einrichtung von Bürgerräten nach.

Lieber Wolfgang, was Du zu den Juristen gesagt hast, findet meine Zustimmung und ich könnte dazu viele Anekdoten beisteuern. Die starke Verrechtlichung unserer Gesellschaft hat vielleicht auch mit den Erfahrungen in Weimar und der Nazi-Zeit zu tun. Unser Grundgesetz ist mit den Grundrechten auf Rechte ausgelegt, aber in einer Demokratie gibt es immer mehr Pflichten. Damit einher geht ein Verlust des Glaubens, dass der Staat seine ureigenen Funktionen erfüllen kann. Da haben die Bürger auch eine Bringschuld. Und ich glaube z.B., dass so etwas wie eine Wehrpflicht durchaus für die Demokratie förderlich ist, weil damit einen soziale Zusammenhalt in gewisser Weise erzwungen wird. Wir müssen auch eine Debatte darüber führen, ob wir die Bürger an bestimmte Verpflichtungen in der Demokratie erinnern. Ludwig Stiegler, der ehemalige SPD-Landesvorsitzende in Bayern hat einmal gesagt: „Der Wähler ist eine Sau“. Der Wähler ist halt so, der ist undankbar. Ich fand das erfrischend, weil er die Menschen daran erinnert hat, dass es in der Demokratie nicht nur darauf ankommt, sich abzureagieren, zu schimpfen, Anti-Parteien zu wählen, sondern dass man selber seinen eigenen Beitrag zu leisten hat.

von Alemann:
Vielen Dank. Wir müssen zum Ende kommen. Ich würde zwar gern noch einen kleinen Vortrag halten über Bürokratieabbau und dass Verrechtlichung und Bürokratie nicht nur durch die bösen Juristen verursacht wird, sondern durch Klientelgruppen. Jede kleine Interessegruppe möchte einen Extraparagraphen haben im Baurecht, im Steuerrecht, im Sozialrecht. Bürokratie wird von den Bürgern und Interessengruppen selber gemacht. Aber das lasse ich jetzt.

Ich möchte Ihnen, liebe Heilbronnerinnen und Heilbronner danken, dass ich wieder bei Ihnen sein durfte und eine spannende Podiumsdiskussion leiten durfte. Herzlichen Dank für Ihre Anwesenheit und für Ihre Beiträge. Herzlichen Dank den Dreien auf dem Podium Wir konnten nicht jeden zufriedenstellen, aber das ist in der Demokratie nun mal so, wie wir heute gelernt haben.

Schließen möchte ich mit Otto Kirchheimer. Otto Kirchheimer war u.a. ein bedeutender Berater der US-Regierung im Zweiten Weltkrieg, wie das Nachkriegsdeutschland und Nachkriegseuropa zu behandeln sei. Und auf die Frage, was er denn mache und was denn seine Funktion sei, sagte er schlicht und ergreifen „Ich bin ein Verfertiger politischer Analysen. Punkt.“ Ich finde, wir haben aus den Tendenzen zu einer gesellschaftlichen Spaltung die richtige und wegweisende Konsequenz gezogen, zusammen zu kommen, um miteinander zu diskutieren, wie die Verhältnisse in unserer Demokratie aussehen. Dies zu analysieren und aus unterschiedlichen Perspektive zu kommentieren und in dem Bewusstsein, dass wir in der Vergangenheit auch schon Krisen und Spaltungen in der Gesellschaft überwunden haben, ist für die Zukunft eine hoffnungsvolle Perspektive.