Otto Kirchheimers Volksparteien
Nach 50 Jahren noch aktuell?
Otto Kirchheimers Volksparteien
Nach 50 Jahren noch aktuell?
Otto Kirchheimers Volksparteien
Nach 50 Jahren noch aktuell?
Sehr geehrte Frau Hotz-Friese,
sehr geehrter Herr Friese,
sehr geehrte Damen und Herren,
unter den zahlreichen Veröffentlichungen von Otto Kirchheimer sticht ein Aufsatz mit dem Titel „Der Strukturwandel des westeuropäischen Parteiensystems“ hervor, den er 1965/66 sowohl einer deutsch- als auch englischsprachigen Leserschaft zugänglich machte*. Dieses historisch erfahrungsgesättigte und analytisch brillante Meisterstück der Parteienforschung über den Aufstieg der Volksparteien ließ ihn dauerhaft zu einen der Großen der Parteienforschung aufsteigen. Ihm ist es zu verdanken, dass die Volkspartei, die catch-all party, für die Parteienforschung zu einem Epoche prägenden Parteityp der Nachkriegszeit und der gesellschaftlichen Moderne wurde.
So wie Kirchheimer die typologische Phänomenologie der Volkspartei herausarbeitete und ihren Aufstieg aus gesellschaftlichen Umbruchverhältnissen herleitete, hat dies wiederholt kontroverse Diskussionen unter Parteienforschern ausgelöst, die aber seinen Kernaussagen nichts anhaben konnten. Gleichwohl stellt sich nach mehr als einem halben Jahrhundert Fortgang der Entwicklung und dem Auftreten neuer gesellschaftlicher Wandlungstrends die Frage, was mit Kirchheimers Volkspartei-Konzept den heutigen Verhältnissen und dem Zustand des Parteiwesens noch Erhellendes abzugewinnen ist. Oder anders gefragt: liefert die Volkspartei immer noch eine taugliche Richtschnur zur Erschließung der Gegenwart, oder ist die Zeit über die Volkspartei, so wie sie Kirchheimer in die Debatte einbrachte, hinweggegangen und gehört längst zu einer überholten Entwicklungsphase des modernen Parteiwesens.
Um meine Antwort darauf vorweg zu nehmen: Entgegen dem Mainstream der heutigen Parteienforschung, der der These eines erneuten entwicklungstypologischen Epochenwandels anhängt, bin ich der Überzeugung, dass die Volkspartei/catch-all party erst in jüngerer Zeit ihr von Kirchheimer vorhergesagtes Eigenschaftsprofil und ihre davon herrührenden Wirkungen vollends entfaltet. Kurzum hat die Kirchheimer´sche Volkspartei uns für die Erhellung des gegenwärtigen kritischen Entwicklungsstands der Parteien noch sehr viel zu sagen und gehört nicht zum alten Eisen.
Um meine zum Mainstream quer liegende These nachvollziehbar zu machen, stelle ich zunächst in Kurzform Kirchheimers Kernaussagen zur Formgestalt und dem Aufstieg der Volksparteien in Westeuropa dar und zeige dann auf, wie diese in der Parteienforschung aufgegriffen und partiell zurückgewiesen wurden. Den Überblick beende ich mit dem Fokus auf die jüngere Party-Change-Forschung, die davon ausgeht, dass die Volksparteien durch einen neuen Epochentypus verdrängt worden seien. Mir ist wichtig, dann hervorzuheben, dass Kirchheimer mit seiner „catch-all party“ bzw. „(echten) Volkspartei“ einen Parteityp beschreibt, der sich im Profil und der Funktionsweise nicht mit den realen Volksparteien deckt, die bis zur deutschen Einheit in der alten Bundesrepublik Epoche prägend waren. Erst mit weiteren einschneidenden Struktur- und Funktionswandlungen nahmen in jüngerer Zeit die älteren Volksparteien den Charakter an, der Kirchheimer mit seiner catch-all party vor Augen schwebte.
*Otto Kirchheimer, Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems. In: Politische Vierteljahresschrift, 6. Jahrgang, 1965, S. 20-41
Otto Kirchheimer; The Transformation of the Western European Party Systems. In: Joseph Laparombara, Myron Weiner (Hrsg.),
Political Parties and Political Development. Princeton 1966, S. 177-200